Texte

 

Neuplatonismus nach der Postmoderne

Michael Evers

 

„Die Organisierung der Verschiedenheiten zur Einheit, die Einigung
der Organe zum Organismus war in mannigfacher Variation immer
wieder das Ziel unserer theoretischen Untersuchungen.“
Paul Klee


Menschenbild
Die Kunst in Europa unterliegt seit der Renaissance der fortschreitenden
Säkularisierung. Mit dem Beginn der Moderne hat sie die Sphäre
des Mythos und der Transzendenz verlassen und ist zu einem kreativen
Selbstausdruck des Individuums, zu einer säkularen Kulturform
des emanzipierten Subjekts geworden. Im Mittelalter hatte Kunst vor
allem die Aufgabe, Anwesenheit und Schönheit des Göttlichen zur
Anschauung zu bringen. Zu der Zeit von Leonardo und Michelangelo,
in der Renaissance in Italien, in einer Phase des Höhepunkts christlich-
platonischer Kultur also, setzte zugleich eine Entwicklung ein, die
die Kunst zunehmend dem Objektivismus des christlichen Weltbildes
entzog und dem Subjektivismus des Individuums überantwortete. In
den Naturwissenschaften fand eine parallele Entwicklung statt.
Forscher wie Galileo Galilei verließen die Denktraditionen der aristotelischen
Naturphilosophie und begannen, auf der Grundlage der Mathematisierbarkeit
der Natur, nur das als wahr gelten zu lassen, was durch Messung nachweisbar
ist. Der Philosoph René Descartes bezweifelte die Erkennbarkeit der Dinge
und alle bis dahin gültigen Gewissheiten und stützte seine Erkenntnis auf
die einzig begründbare Grundlage des sich im Zweifel bewusst werdenden
Ichs. Seit der Aufklärung wurde die Macht der Kirche zurückgedrängt und
Metaphysisches Denken verneint. Rationalismus, Skeptizismus und die
Freiheit des Subjekts sind die mächtigen Triebfedern, die Europa in
die Moderne führten.

Die Entzauberungen durch die Naturwissenschaften haben auch zu
einem starken Bedeutungsverlust des menschlichen Subjekts geführt.
Aus der Sicht der Evolutionsbiologie und der Neurowissenschaften
wird dem Menschen der freie Wille und somit die Selbstbestimmung
prinzipiell abgesprochen. Er wird naturalisiert, also zu einer reinen
Naturexistenz deklassiert, zu einem Wesen, das fremdbestimmt, durch
unbewusste Naturinstinkte festgelegt ist. Die Evolution, wird behauptet,
programmiere den Bauplan des Menschen in den Genen. Auch in
postmodernen Kulturtheorien, vor allem in der Philosophie des Poststrukturalismus,
wird das monadische Menschenbild radikal verneint. Das Ich ist vor diesem
Hintergrund ohne Identität an sich, es ist lediglich eine sprachliche Konvention
und das Produkt sozialer Prozesse. Das bedeutet, dass das Ich als eine Fiktion
angesehen wird, jedoch – im Gegensatz zu metaphysischen Weltbildern – ohne dass hinter oder
unterhalb des Scheincharakters des Ichs ein tieferes, wahres Subjekt
existiert.

Die Verneinung des freien Willens ist auch eine Verneinung der autonomen
Kreativität. Die heutige Kunst wird nicht durch die so genannten
höheren Werte legitimiert, durch metaphysische Prämissen. Unter
der Voraussetzung der Naturalisierung des Menschen ist Kreativität
ein sublimierter Instinkt und unfrei und, als Konsequenz, lediglich
eine spezielle Art der Information und Produktion. Kreativität ist eine
Überlebensstrategie neben anderen. Der Künstler operiert in einem
Arsenal von Zeichen und Formen, von denen sich die durchsetzen, die
Aufmerksamkeit erzeugen und evolutionär von Vorteil sind. Kunst ist
so ein Spiel mit Fiktionen im Rahmen von Zeichensystemen, ohne
feste Rückbindung an die Einmaligkeit und Identität eines individuellen
Menschen, an den authentischen Ausdruck eines autonomen
Bewusstseins. Das Künstler-Subjekt wird unterschwellig entmachtet,
indem es zu einer Funktion innerhalb semantischer Strukturen wird.
Kunst und Künstler entstehen in den Kommunikationsstrukturen und
Konventionen des „Systems“.

Die Kunst einer Epoche hängt ab von dem jeweiligen Menschenbild
und von den herrschenden Ideologien. Die Postmoderne ist vor allem
geprägt von einem radikalen Skeptizismus. Die Frage nach der
Wahrheit der Kunst gilt als überholt. In den Strömungen, die von dem
französischen Künstler Marcel Duchamp (1887–1968) ausgingen, in
den zahlreichen antimetaphysischen, nominalistischen Strategien, hat
die Kunst ihre Ausdrucksformen erweitert und in einer unübersehbaren
Vielfalt ausdifferenziert. Dabei wurde der Bezug zu verbindlichen
Bedeutungszentren und metaphysischen Bezugssystemen, wie sie noch
in der klassischen Moderne in Form von Geometrien und anderen
platonischen, archetypischen Sinnstrukturen Gültigkeit hatten, abgebrochen
und negiert. Doch die gigantische Befreiung des Kunstbegriffs
ist auch mit Reduktionen erkauft. Analog zu den Naturverdrängungen,
wie sie aktuell durch Artensterben und Klimawandel sichtbar
werden – durch den Verbund von kapitalistischer Wirtschaftsweise,
positivistischen Naturwissenschaften und Technologie – hat auch die
Kunst den Naturbezug aufgegeben. Die Moderne scheint einen Krieg
gegen die Natur zu führen, eine Art Rachefeldzug, nachdem die
Menschheit in allen früheren Epochen der Vernichtung durch
Naturkräfte hilflos ausgeliefert war. Neben der Evolutionsbiologie als
gesellschaftlichem Leitdiskurs schreiten die moderne Emanzipation
bzw. Entfremdung von der Natur in der westlichen Kultur weiter fort.
Aus diesem Grunde wird auch die Verbindung zu den Quellen der
Bilder und Rhythmen im vorsprachlichen Raum des Unbewussten
weiterhin vergessen.

Insofern muss eigentlich von Reduktionen und nicht von Erweiterungen
des Kunstbegriffs gesprochen werden. Diese Feststellung bezieht
sich auf den Mainstream der westlichen Kunst, auf das vorherrschende
System, in dem eine zum ökonomischen Rationalismus zum Teil
analoge, jedenfalls diesem sich nicht widersetzende Mentalität vorherrscht.
Dabei haben die vielfältigen Formen von institutionalisiertem
Irrationalismus die Funktion, den Mangel zu kompensieren. In der
Welt des Pragmatismus und der Tatsachenberechnung überlebt das
Bedürfnis nach Wiederverzauberung und Anti-Realitäten in der
Kunst. Und wenn von Künstlern, Autoren, Theatermachern, Philosophen,
Filmemachern und anderen Kulturschaffenden brennende
Gegenwartsthemen wie die Naturproblematik aufgegriffen und gestaltet
werden, ist es offensichtlich, dass dies keinerlei Resonanz bei den
Führungseliten, keinerlei Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung
hat und dass das kulturelle Geschehen ein isoliertes Eigenleben führt.
Die aktuellen globalen Krisen sind auf einer tieferen Ebene gesehen
kulturelle Krisen, sie sind Anzeichen von großen Bewusstseinsdefiziten.
Vor dem Hintergrund der mentalen und psychischen Verwüstungen,
die die Negationen der Postmoderne bewirkt haben, herrscht ein
Nihilismus vor, der als solcher schon lange nicht mehr reflektiert
wird. Hinter den aktuellen Natur- und Wirtschaftskrisen rumort die
gewaltige Verdrängung von Aspekten unseres Seins, die von der ökonomischen
Zweckrationalität ignoriert werden. In Wahrheit müssen
wir wohl eher von einer planetaren Vorherrschaft des Irrationalismus
sprechen. Der zerstörerische Gegenpol der einseitig rationalen
Aufklärung türmt sich uns entgegen.

In diesem Jahrzehnt ist zu beobachten, dass Künstler wieder aus antirationalen
und mystischen Quellen schöpfen und an surrealistische,
symbolistische Traditionen anknüpfen. Noch ist diese Tendenz unverbindlich
und ambivalent, wie auch bei dem ehemaligen Museumsleiter
Veit Loers, der in der Kunstzeitschrift „Monopol“(7/8, 2008)
schreibt: „Esoterik, Okkultismus und Spiritualität haben ihren
Schlupfwinkel verlassen und beseelen die Kunstwelt“ und „Der Bann
gegen Esoterik ist offenbar aufgehoben…“; er spricht von „einem
kulturellen Stimmungswandel“. Die Kunst wird von den Künstlern
gemacht und nicht von den Theoretikern, sie sucht sich immer neue
Wege und ignoriert die Doktrin des Systems und die intellektuellen
Diskurse. Jedoch ist das wieder aus dem dionysischen Untergrund
Aufsteigende eine Romantik im postmodernen Kontext. Die Bilder
zeigen einen oft unverbindlichen Symbolismus, irrlichternde, psychedelische
Gegenwelten, sie bewegen sich in der Ambivalenz und Uneindeutigkeit
zwischen Geheimnis und Banalität, zwischen Sinn und Leere.

Kulturimpulse, die der materialistischen Weltanschauung mit ihren
Defiziten und ihrem Zerstörungspotential ein alternatives, komplementäres
Denken gegenüberstellen, gibt es bereits seit den Ganzheitsentwürfen
der Romantik und des Deutschen Idealismus, in denen der
Kunst eine entscheidende Rolle zukommt. Sie existieren weiter in den
Unterströmungen der Gesellschaft. Der schottische Kulturwissenschaftler
James Webb bezeichnete in seinem Buch „Das Zeitalter des
Irrationalen“ (1976) die dionysischen, okkulten und neuplatonischen
Strömungen, die sich während des 19. Jahrhunderts zunehmend in
Europa und Russland bildeten, als das „verworfene Wissen“.
Bei vielen Künstlern der Klassischen Moderne lassen sich metaphysische
Ideen erkennen. Dies ist mehrfach nachgewiesen, durch die
Publikation „Das Geistige in der Kunst – Abstrakte Malerei 1890–
1985“ (1988) ebenso wie durch die von Veit Loers 1995 ausgerichtete
Ausstellung „Okkultismus und Avantgarde“ in der Frankfurter Schirn
oder von dem amerikanischen Kunsttheoretiker Robert Rosenblum in
seinem Buch „Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik“
(1975). Durch Pop-Art, Antikunst und postmodernen Dekonstruktivismus
wurde jedoch die Transzendenz während der letzten Jahrzehnte
zurückgedrängt. Sie ist im Materialismus versandet. Es scheint
sich ein vollständiger und radikaler Bruch vollzogen zu haben, der die
metaphysischen Strömungen, wie sie aus der Vergangenheit kommend
die Moderne noch lange inspiriert haben, unwiederbringlich beendet
hat. Der heutige Zeitgeist hat eine skeptische Sensibilität entstehen
lassen, die die Begrenztheiten und das Illusionäre der klassischen
Ideen und Ästhetik durchschaut und ablehnt. Materialismus und
Atheismus haben zweifellos eine wichtige emanzipatorische Bedeutung
in der Bewusstseinsgeschichte. Die Scheinwahrheiten und der Zwang
religiöser Systeme und Traditionen wurden beendet, und durch den
Verlust von Transzendenz und Mythos wird der Einzelne zum eigenverantwortlichen
Denken gedrängt. Die Entlarvungsstrategien jedoch, die unablässig und mit
aller zur Verfügung stehenden Leidenschaft sich bemühen, Scheinwahrheiten
zu destruieren, lassen, da nicht unterschieden wird zwischen Scheinwahrheit
und Substanz, nur geistige Wüsten, tote Zonen, gähnende Leere zurück.
Eine heutige metaphysische künstlerische Position sollte, wenn sie
glaubwürdig sein will, autonom und konsequent aus der individuellen
und eigenverantwortlichen Inspiration schöpfen, da die tradierten
Formen ihre Kraft verloren haben. Unbestritten bleibt jedoch auch,
dass jede Kunst ihre Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen
muss, um zukunftsfähig zu sein.

Dionysos
Wenn Irrationales in der Kultur beschrieben werden soll, wird häufig
die Dionysos-Metapher gebraucht. Die Tatsache, dass viele moderne
Maler den Chaosbegriff in ihr Konzept einbeziehen, ist ein Indiz für
die Anwesenheit des Dionysos-Archetyps auch in dem heutigen säkularen
kulturellen Geschehen. Der Kunsttheoretiker Hans Belting sagt
in „Szenarien der Moderne“ (2005): „Die Künstler haben ja die
Chaostheorie längst praktiziert, bevor die Naturwissenschaftler sich
damit brüsteten.“ Die Chaos-Metapher weist darauf hin, dass der
Künstler aus den vorsprachlichen und unbewussten Strukturen des
Seins schöpft.

In seiner Vortragsreihe „Der kommende Gott“ (1982) untersucht der
Tübinger Philosoph Manfred Frank die Kontinuität des Dionysos-
Mythos in Literatur und Philosophie. Er entwickelt die These, dass
seit der deutschen Frühromantik – von Friedrich Schlegel, Hölderlin,
Novalis und Schelling – Dionysos als ein Gott gesehen wurde, der die
Götterwelt der alten Mythologien umfasse, abschließe, das Neue
ankündige und so in die Nähe der Christus-Idee gebracht werde. In
Anlehnung an Nietzsches radikaler Kritik am neuzeitlichen Rationa–
lismus sagt Manfred Frank: „Wenn Gott als der übersinnliche Grund
und als das Ziel alles Wirklichen tot ist, wenn die übersinnliche Welt
ihre verbindliche, vor allem ihre bergende Kraft eingebüßt hat, dann
bleibt nichts mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich
richten kann. Dieses Nichts breitet sich aus. Der Ausdruck ,Nichts’
bedeutet: Abwesenheit eines übersinnlichen Grundes.“ Im Dionysos-
Mythos seien seit der Frühromantik die spirituellen Hoffnungen unter
den Bedingungen der Moderne aufbewahrt.

Dionysos gilt als der Gott der Fruchtbarkeit und des Rausches, als
Ausdruck einer chaotischen Energie, doch tatsächlich ist das Phänomen
des Dionysischen damit bei Weitem nicht erfasst. Dionysos ist
ein Archetypus, der in der menschlichen Seele wirkt. Nach C.G. Jung
sind Archetypen kollektive, präexistente Formen der Psyche, die allgegenwärtig
sind und durch Bewusstwerdung einen fest umrissenen
Inhalt bekommen. Archetypen sind Energiezentren im Unbewussten,
die Gefühle, Bilder und Gedanken freisetzen und sowohl den individuellen
Lebensweg als auch geschichtliche Entwicklungen beeinflussen.
Sie führen den Menschen zu seinem in ihm angelegten Ziel, dem
Telos, seinem wahren Wesen.

Ein Schlüsseltext zum Mysterium des Dionysos ist Friedrich Nietzsches
berühmte Schrift „Die Geburt der Tragödie“ (1872). Sein spätromantischer
Rückgriff auf die Mysterien der griechischen Antike ist in weiten Teilen
noch immer brandaktuell für neue Anknüpfungsmöglichkeiten.
Er entwickelt in dieser frühen Schrift eine Kunstlehre von ungeheurer
Weite und Tiefe, er integriert Seinsebenen, die im postmodernen
Kontext schon lange nicht mehr diskursfähig und völlig verdrängt
sind. Der nominalistische französische Poststrukturalismus und
der säkulare Zeitgeist insgesamt haben Nietzsche völlig einseitig ausgelegt,
in diesem Kontext wird er nur als Dekonstruktivist, als radikaler
Verneiner gesehen. Nietzsche ist ambivalent, eben auch Metaphysiker,
Erbe der Romantik. Mit den beiden griechischen Göttern Dionysos und
Apollo konzipiert er eine Kulturtheorie, die – ursprünglich auf Schelling
zurückgehend – aus mythischen Tiefen schöpft. Sie beruht auf einem
Antagonismus von Kräften und Ideen, auf einer archetypischen,
ontologischen Dualität, mit der zwei entgegengesetzte
Bewusstseinsebenen des Menschen und die Bedingungen seiner
Kreativität erfasst werden können. Selbst von der dionysischen Macht
erfasst, selbst „der begeisterte Dionysosdiener, der die Nähe des
Gottes spürt“, ist Nietzsche in diesem Text kein Nominalist. Das
Apollinische und das Dionysische sind zwei „Kunsttriebe der Natur“,
die auch ohne durch den Menschen vermittelt existieren. In der Figur
des Sokrates sieht Nietzsche den krassen Gegenpol, den Gegner des
Dionysos. Er ist, als das Urbild des „theoretischen Menschen“, der
Stammvater der europäischen Rationalität und Aufklärung und der
Zerstörer des Mythos.

Nietzsche sagt: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich
nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen:
auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder
ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“
Dionysos ist „der Weg zu den Müttern des Sein’s“, er ist die Region
der Dinge an sich. Doch in dieser Sphäre ist der Mensch auch den
„Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins ausgeliefert.“ Der taumelnde,
trunkene Gott ist ein Bild für das Chaos unbeherrschbarer Naturkräfte
und für die irrationale Enthemmung unter der kulturellen
Oberfläche – was jedoch nicht klischeehaft missverstanden werden
sollte als Triebentfesselung und Eskapismus innerhalb unserer materialistischen
Oberflächenkultur, nicht als Avantgarde-Attitüden der
Spätmoderne, sondern im Sinne der Auflösung und Überschreitung
des materialistischen Weltbildes.

Der Gott mit den Stierhörnern, von Efeu bekränzt, mit Panthern und
Faunen in seinem Gefolge, bewirkt die Verflüssigung von mentalen
und seelischen Verhärtungen und öffnet den Zugang zur metaphysischen
Welt. Er ist die Kraft der Auflösung reaktionärer Ordnungen.
Im Dionysischen erfährt der Mensch das Einheitserlebnis im Rausch.
Ausgesprochen irritierend sind in diesem Zusammenhang die Mänaden.
Der griechische Tragödiendichter Euripides (484 – 406 v.Chr.),
dem – wie Nietzsche es analysiert – als Aufklärer der tiefere Sinn der
Dionysos-Mysterien allerdings bereits verschlossen war, schildert in
dem Stück „Bakchen“ die von Dionysos inspirierten Frauen, die auf
ihrer Wallfahrt zum Parnass-Gebirge in ihrer Raserei alles zerlegen,
was ihnen in die Quere kommt. Man kann hierin einen antiken
fundamentalistischen Terror sehen, doch was bedeutet es in einem
tieferen Sinne, wenn sie ekstatisch Rinder und auch gelegentlich Menschen
zerreißen? Sie verneinen das Leben im Stoff; Fleisch ist ihnen, in
Bezug auf das Wesen der Dinge, im Verhältnis zum Geist, nur
Verhüllung.

Der Gott Dionysos ist die unbewusst schaffende Natur, die Natura
Naturans, die „unendliche Produktivität“ (Schelling) im Ganzen der
Natur als auch im Individuum selbst. Er ist die alles verbindende und
ebenso vernichtende Urkraft schlechthin. Dionysos ist die göttliche
Weltseele unterhalb oder innerhalb der Naturkräfte, die „Anima
Mundi“, die Gewähr für die Einheit aller Dinge und für den Zusammenhang
aller Wesen und Formen mit ihrem Ursprung. Das Herz des
Dionysos ist das Symbol für diese Sphäre. Er treibt den Menschen zur
Überschreitung von Grenzen, speziell der Grenze zwischen der Ratio
und dem Unbewussten und den Erkenntnisgrenzen insgesamt. Er ist
der Urwille, der veraltete Denkformen und Ideologien sprengt. Er zerstört
verfestigte, verkrustete Formen. Er bricht die Materie auf und
erweckt den Geistkern im Herz des Menschen.

Der Dionysos-Archetypus ist allerdings ebenso in der Lage, Okkultismus
und gewaltige, zerstörerische Instinkte zu entfesseln, eine Tatsache,
für die es in unserer Geschichte hinreichend Beispiele gibt.
Manfred Frank: „Das Charakteristische ist freilich, dass der moderne
Wunsch, ins Archaische des Mythos zu regredieren, unter Bedingungen
einer entzauberten Lebenswelt nicht mehr von der Zuversicht
beseelt ist, dort dem Übersinnlichen zu begegnen, sondern nur noch
dem Rausch.“ Es ist klar, dass der Grund für Regression mangelndes
Bewusstsein ist, und so kommt bei Nietzsche, als notwendiger Gegenpol
zum dionysischen, der apollinische Trieb ins Spiel. Apollo ist der
Gott des schönen Scheins und des Traumes. Er ist aber auch der
Formpol, er steht für Harmonie, Maß, Vernunft und für die Klarheit
des Gesetzmäßigen. Er ist das Bollwerk gegen die wilden dionysischen
Instinkte, und er ist die Kraft, die den Einzelnen in seinem natürlichen
Umfeld sich abgrenzen lässt, ihn dadurch zur Individualisierung, zur
Bewusstwerdung und zur Selbsterkenntnis führt: gnothi seauton.
„Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende
Gott.“ Die dionysische Weltseele festigt sich in den Träumen,
Bildern und Ideen des Apollinischen und wird so dem Menschen
sichtbar und gestalterisch wirksam. Apollo ist der Gott des Mythos,
in dem sich der Mensch das Dionysische anschaulich und begreifbar
macht. Schönheit und Kunst sind der apollinische Schein, durch den
sich das Individuum über die Abgründe und die zerstörerischen Kräfte
des Daseins erhebt, ohne sich jedoch vom Urgrund alles Seins völlig
abzutrennen. Das apollinische Kunstwerk ist eine Sublimation. In den
apollinischen Erscheinungen objektiviert sich Dionysos. Aber das
apollinische Prinzip birgt auch die Gefahr formalistischer Erstarrung
in sich, weswegen erst durch die Integration beider künstlerischer
Mächte, „bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender
Versöhnung“ die Fortentwicklung der Kunst gewährleistet ist. In der
Konzeption Nietzsches ist durch den „Bruderbund beider Gottheiten“,
„durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ,Willens’“
in der attischen Tragödie eine Synthese dieser gegensätzlichen künstlerischen
Triebe erreicht. Und hierin sieht Nietzsche ein Vorbild für wahres
künstlerisches Schaffen.

Unter der Vorherrschaft der Aufklärung wurde die Welterklärung
rationalistisch, Wissenschaft wurde zu einem nutzenorientierten
Anwendungswissen; durch die Maschine, durch Technik und die
moderne Medizin veränderte sich das Verhältnis des Menschen zur
Natur grundlegend. Nietzsche sieht den heutigen theoretischen Menschen
in dem Wahn gefangen, sein Dasein mit rationalem Denken in
den Griff bekommen zu können. Der theoretische Mensch verkörpert
für ihn die Moderne, die mit ihrer einseitigen Rationalität sich einbildet,
die Natur auf einen Kausalmechanismus reduzieren und beherrschen
zu können und dadurch das Leben kristallisiert, der Mensch
deformiert wird. Er steht für den Geist der neuzeitlichenWissenschaft,
durch den Mythos und Poesie vernichtet werden und der die Ursache
für die Degeneration der Kultur ist. Der theoretische Mensch ist die
Metapher für den naturwissenschaftlich-technologischen Fundamentalismus
mit seinem Desillusionierungszwang. Er ist auch der ökonomische,
nutzenorientierte Bürger, der das Leben vorrangig quantifizierend
begreift. Für Nietzsche ist in erster Linie die Musik das Heilmittel,
als Ausdruck des Urwillens, die die dionysischen Energien
entfesseln kann und den Menschen wieder mit Kräften des Urgrunds
in Kontakt bringt. Dieser Impuls hat, nachdem in Deutschland die
Möglichkeiten dafür durch den Nationalsozialismus – durch dessen
Deformation und Missbrauch dieser Ideen – in der Nachkriegszeit
erstmal verbaut waren, stark in der angelsächsischen Kultur weitergelebt.
Rockmusik und „Underground“, Hippiekultur und Woodstock
waren antirationalistisch-vitalistische Auflehnungen gegen die herrschende
gesellschaftliche Entwicklung. In dem Film „The Doors“ von
Oliver Stone sehen wir, wie Jim Morrison und die Musiker um ihn
herum sich auf Nietzsche beziehen und sich mit dem Dionysischen
identifizieren. Der Name dieser Gruppe zeugt von der Hoffnung auf
eine Öffnung und den Durchbruch zu einem anderen Bewusstsein.
Die 68er Jugendbewegung war getragen von einer kollektiven
Ideation. Wenn man heute die Musik jener Zeit erlebt, spürt man
den unbedingten Willen zur Entgrenzung und die Glaubwürdigkeit
und Intensität der Gefühle.

Schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zur Zeit des
Symbolismus und Expressionismus, war Nietzsche eine zentrale
Inspiration nicht nur für die Musik, sondern für die Kunst insgesamt,
und auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der französische
Poststrukturalismus stark dionysisch gefärbt wegen seiner
Demontage des Rationalismus-Paradigmas, indem das Ich-Subjekt aus
seiner Machtposition und Selbstgewissheit gestoßen, mit seiner die
Welt beherrschenden Ratio verneint wurde, – allerdings auf der
Grundlage eines rein atheistisch-materialistischen Weltbildes.

Skepsis
In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand mit
der „Concept Art“ eine gegenüber klassischen Vorstellungen völlig
veränderte Kunstform; seit den 90er Jahren wird sie als „Kontext-
Kunst“ fortgesetzt. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die
gedankliche Komponente im Vordergrund steht und zum Ausgangspunkt
der künstlerischen Produktion wird. Es ist durchaus nahe liegend,
in dieser Kunst-Praxis eine Erfindung des „theoretischen Menschen“
zu sehen. Concept Art ist eine Form von Ikonoklasmus, aus dessen Logik
die sinnliche Erscheinungsform des Bildes als konservativ gilt und
das Kunstwerk entmaterialisiert wird, wobei man in der Reduktion
auf die gedankliche Struktur einen Fortschritt sehen will. Ein
grundsätzlicher Irrtum in der europäischen Mentalitätsgeschichte
wird dabei wieder sichtbar: Ebenso, wie in den Naturwissenschaften
das rationale Naturgesetz in den Rang der platonischen Idee
gehoben und dabei sowohl die Ratio fatal überschätzt als auch die
Ideenwelt unterschätzt werden, bekommt in der Konzeptkunst das
Mentale den Status des der Sinnenwelt überlegenen Geistigen. Das
intellektuelle Konstrukt einer materialistischen Denkart hat jedoch
nichts mit der platonischen Idee gemein. Zudem geht der Konzept-
Künstler nicht in den vorsprachlichen Raum seines Unbewussten und
seiner Gefühle, um den Urbildern und Universalien der Gestaltung
näher zu kommen. Er entwirft seine Strategien aus dem Intellekt, die
gedankliche Struktur ist primär; sinnliche Anschauung, Empfindung
und das Unbewusste sind wahlweise verneint, abgewertet oder nachgeschaltet.
Die ontologischen Sphären des Dionysischen und des Apollinischen
existieren nicht oder nur rudimentär. Das Kunstwerk ist die Materialisierung
bzw. Konkretisierung eines Gedachten. Kunst wird zu einem Gedankending.
Das Medium Bild wird zur Darstellung gedanklicher Reflexionen benutzt.
Alles, einschließlich der eigenen Psyche, wird dem Konzept-Künstler
zum intellektuellen Spiel mit Bedeutungen. Der heute übliche Begriff
der „Inszenierung“, das die Wirkung berechnende In-Szene-Setzen, ist von
Nietzsches Idee der Erhebung im apollinischen Schein Lichtjahre entfernt.-
In der Kontext-Kunst werden mit der Methode der Kontext-Verschiebung
bzw. -Vertauschung die Bedingungen der Kunst reflektiert, ihr soziales
Umfeld untersucht und gesellschaftliche Verhältnisse kritisiert,
indem außerkünstlerische Kontexte in den Raum der Kunst versetzt
werden.

Denken und Sprache sind integrale Komponenten der Kunst, doch
wie werden in diesem Zusammenhang Denken und Sprache gedacht?
Der philosophische Hintergrund der Concept Art ist die angelsächsische
Sprachphilosophie, eine Variante des Nominalismus, in dem
Begriffe bloße Namen sind, die den Dingen angehängt werden. Ein
solches Sprachverständnis ist heute selbstverständlich, doch hier wird
der Skeptizismus radikalisiert: Auch unsere inneren Vorstellungen bildeten
sich erst in den Strukturen der Sprache; seit dem so genannten
„linguistic turn“, der sprachphilosophischen Wende, spricht man von
der „Unhintergehbarkeit der Sprache“. Innerhalb dieser Sichtweise ist
die Rede von einer unbewusst-vorsprachlichen Wirklichkeit sinnlos,
da erst in und durch Sprache Bedeutung entsteht. Sprachliche Zeichen
insgesamt sind – ähnlich wie im französischen Poststrukturalismus –
losgelöst und also freigestellt von verbindlichen Sinnstrukturen. Der
Zusammenhang von Zeichen und Bedeutung ist willkürlich. In diesem
Sinne wird Kunst zu einem Spiel mit Fiktionen und zu einem reinen
Oberflächenphänomen. Das Kunstwerk ist die Visualisierung oder
Konkretisierung eines intellektuellen Konstrukts. Die amorphen
Naturkräfte des Unbewussten können nicht eintreten in die Sphäre
der Kunst, sie werden nicht erreicht und erfasst von dem Gestaltungswillen.
Die Konzeptkunst seit Duchamp ermöglichte die Erfindung immer
raffinierterer Kunstprodukte. Ähnlich wie die Finanzprodukte der
Börsenmakler und Banker, die keinen Bezug mehr haben zur Realwirtschaft,
sind viele Werke der Konzeptkunst Konstruktionen und Deklarationen
der Insider und Eingeweihten des Kunstbetriebs; ihr Wert wird sich
möglicherweise als nur kurzfristig stabil erweisen. In dieser Art von
Kunst ist der Kontakt zu jeder tieferen Seinsebene abgebrochen.

Der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den Diskurs
dominierende Poststrukturalismus formulierte eine Weltsicht, die konsequent
jede Art von Sinnzentrum verneint. Obwohl die französischen
Philosophen aus der Mode sind und inzwischen als „tote Hunde“ gelten,
ist der heutige Zeitgeist noch weitgehend von ihren Programmen
beeinflusst. Unter anderem bedeutet dies die Abkehr von der europäischen
Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie. Das Ich-Subjekt als Sinnzentrum
und als Bedingung für die Einheit des Bewusstseins – mit seinen
verschiedenen Vermögen wie Erkenntnis, Kreativität und Moral – ist
abgeschafft. Sozial eingeübte Verhaltenskonventionen, semantische
Systeme, historisch bedingte Strukturen des Wissens sind an dessen
Stelle gesetzt. Alles, was wir wissen, sei historisch, bezögen wir
ausschließlich aus schon vorhandenen Wissensbeständen. Sprache
kopiere oder repräsentiere nicht die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit
werde durch Sprache und Zeichenstrukturen erst konstituiert.
Der Mensch als Individuum stehe nicht autonom außerhalb der
Strukturen, diese erkennend und sinnvoll gestaltend, sondern er sei
Teil der Struktur, die Struktur erschaffe ihn. Seine Identität sei Illusion,
seine scheinbare Einmaligkeit sei nur das Resultat der strukturellen
Differenzen. In dieser Theorie sind die Menschen Räder der Sprachmaschine,
Objekte einer sich selbst betreibenden Struktur. Dabei entsteht das
Problem, dass innerhalb einer solchen Sichtweise die Struktur ontologisch
in die Rolle des Subjekts rückt. Man kann auch dies als säkulare Variante
eines dionysischen Denkens erkennen, als eine Philosophie der Auflösung
des Subjekts und seiner Verschmelzung mit dem Ganzen der Struktur.
In der Logik des poststrukturalistischen Paradigmas ist der Sinn der
Kunst nicht etwas, das am Objekt entsteht und ebenso wenig, und
das ist der entscheidende Vernichtungsschlag, im Subjekt. All unsere
Erkenntnisse seien Interpretationen, Spiegelungen von Spiegelungen;
der Ursprung von Sinn und Bedeutung könne nicht erkannt werden.
In der Medientheorie des französischen Philosophen Jean Baudrillard
sind es die Simulakren, die Abbilder und Schattenbilder, die die Wahrnehmung
beherrschen und hinter denen die eigentliche Wirklichkeit verschwindet.

Nach der Vernichtung der individuellen Subjektivität und der Verneinung
ästhetischer Werte insgesamt entsteht jetzt die Frage, wie in
der Kunst Verbindlichkeiten hinsichtlich von Sinn und Bedeutung
überhaupt noch hergestellt werden können. Kunst sei, so wird
behauptet, eine Sache der Verhandelbarkeit: was Kunst ist, wird im
Rahmen von Sprachspielen ausgehandelt. Bedeutung beruht auf temporären
Vereinbarungen.

Man kann die kulturelle Entwicklung seit Beginn der postmodernen
Phase auch als eine Revision der Moderne sehen, indem deren Fehl-
Entwicklungen und Irrtümer erkannt, ihre Werte demontiert werden
wegen ihrer inhumanen Aspekte und der offenkundigen Illusionen.
Doch es folgen die falschen Konsequenzen aus diesen Einsichten. Die
dem Ethos der Moderne inhärente Idee des Einen, aus der abendländisch-
christlichen Tradition stammend, wird wegen deren Tendenz
zum Totalitären abgelehnt. Eine zentrale Position innerhalb der postmodernen
Philosophie ist die Negation jeder Form von Ganzheitsidee wegen der
implizierten Vorstellung eines Wahrheitszentrums, wegen deren
Rückbindung an transzendente Meta-Ordnungen: „Krieg dem Ganzen“
(J.-F. Lyotard). Die idealistische Perspektive von der Entwicklung des
Geistes zu einer zentralen Wahrheit hin setze ein Absolutheitsdenken
voraus, das Unterschiede, die sich dieser Logik widersetzten, verneinen
und bekämpfen müsse. Die Folge sei zwangsläufig Unfreiheit, die
Unterdrückung des Individuellen, Abweichenden und die Reduktion
und Vereinheitlichung der Vielfalt des Lebens.

Statt Identität wird Differenz zum Paradigma erhoben. Die Postmoderne
setzt dem Identitätsdenken den Pluralismus der Werte und
Lebensformen entgegen, eine Liberalisierung also, die aus der Logik
der europäischen Aufklärung Fortschritt und Modernisierung bedeutet,
die allerdings weitere gesellschaftliche Zerfallserscheinungen nach
sich zieht – ein Dilemma, dessen Bewältigung als Kulturaufgabe noch
vor uns steht. Die postmodernen Konzeptionen sind der Versuch, den
westlichen Logozentrismus zu entthronen und marginalisierte
Wissens- und Lebensformen zu emanzipieren. Durch Differenzdenken
und das Dekonstruktivismus-Paradigma werden Ansätze, die auf
einen integralen Natur- und Wirklichkeitsbegriff abzielen, generell
negiert.

Als Vorreiter von Konzeptkunst und postmodernen Denkweisen gilt
Marcel Duchamp, der vor einigen Jahren bei einer Umfrage in
England zum einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts gewählt
wurde. Er ist der Erfinder des Ready-made: industriell gefertigte
Produkte, die zum Kunstwerk erhoben werden. Wenn ein Urinoir den
Status eines Kunstwerks erhält, entsteht die andauernde Frage, was
Kunst denn sei. Das Artefakt wird zum Anlass der Selbstreflexivität.
Philosophie wird zum Bestandteil der Kunst. Durch die Problematik,
dass alles Kunst sein kann, ist eine Meta-Kunst entstanden, die sich
von der Objekthaftigkeit gelöst hat und die Kunst selbst thematisiert.
Diese zumeist absolut formulierte Entwicklungslogik lässt jedes klassisch-
moderne Verständnis von Kunst naiv erscheinen, ist dabei jedoch völlig
relativ, denn sie ist bedingt durch die Abtrennung der Kunst von ihrem
ursprünglichen metaphysischen Bezug. Durch die Befreiung des
Kunstbegriffs vom Objekt ist der Kunstbegriff noch nicht begriffen,
das heißt, es ist damit noch nicht geklärt, was Kunst ist, sondern nur gesagt,
dass der Begriff der Kunst wesentlicher wird als das sinnliche Objekt.

Duchamp begann als Künstler in einer Kulturphase – die ersten Jahrzehnte
des 20. Jahrhunderts –, die von Theosophie und Symbolismus
geprägt, in der Okkultismus eine Modeströmung war. Nachweislich
hat er sich mit alchemistischen Ideen beschäftigt. Die Strategie der
Verwandlung von Alltagsobjekten in Kunstwerke lässt sich auf hermetisches
Denken zurückführen. Der industrielle, profane Gegenstand
wird verwandelt und mythisch aufgeladen, indem er in den Kunstkontext
gestellt wird – was allerdings nur im institutionellen Rahmen
des Kunstbetriebs funktioniert. Der Betrachter ist hierbei aufgefordert,
sich auf die Institutionslogik einzulassen, will er an der Magie teilhaben.
Duchamps zentrales Werk „Das Große Glas“ weist alchemistische
Motive auf. Bezeichnenderweise wird die antimaterialistische
Seite seiner Kunst in der postmodernen Rezeption unterschlagen, dort
wird er als souveräner Skeptiker und Erweiterer des Kunstbegriffs
gefeiert. In dem schon erwähnten Buch „Das Geistige in der Kunst –
Abstrakte Malerei 1890–1985“ von 1986, als noch ein für Mythologisches
offeneres Klima herrschte, sah man ihn als „Alchemisten der
Avantgarde“. Nun ist Alchemie ein schillerndes Wort und wird auch
im säkularen Kontext gern benutzt. Duchamps Werk ist ambivalent,
ein faszinierendes Labyrinth an Bedeutungen, es changiert zwischen
Skepsis und Okkultismus, zwischen der Negation jeder Art von
Transzendenz und der Suche nach der 4. Dimension, zwischen Nihilismus
und Metaphysik. Er war Agnostiker, er lehnte die Idee der
Wahrheit und des authentischen Stils in der Kunst ab. Es ist wichtig
festzustellen, dass Duchamp ein Säkularisierer von hermetischen
Vorstellungen war, und, wie es auch heute üblich ist, mit den Zeichen
für Transzendenz ein intelligentes Spiel inszenierte. Das Ready-made
ist ein Angriff auf klassische Kunstnormen und eine Strategie der
Liberalisierung der Kunst. Doch Duchamps Variante der Erweiterung
des Kunstbegriffs hat zur Nivellierung und in der Konsequenz zur
Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst und damit
zur Auflösung des Kunstbegriffs geführt. Die Transformation funktioniert
nämlich auch in umgekehrter Richtung: in den Strategien der
Konzeptkunst wird nicht nur die Wirklichkeit zu Kunst, es passiert
nicht nur die „Verklärung des Gewöhnlichen“ (A.C.Danto). Denn
ebenso wird die Kunst demontiert, verliert ihre Distinktion und passt
sich der Welt des heutigen Kunstkapitalismus und der Banalität an.
Das Ready-made-Prinzip hat somit eine Form von Kunst geschaffen,
die dem alle Lebensbereiche beherrschenden Kapitalismus nichts entgegen
zu setzen hat. Duchamp war ein Magier der Kunst und ihr Zerstörer.
Seiner Transformationsmethode fehlte jedoch der „Wärmebegriff“.
Die Erweiterung der Kunst in die Wirklichkeit hinein ist mit
Sicherheit die richtige Idee, doch es ist fraglich, ob die Richtung in der
Duchamp-Nachfolge stimmt. Denn bei dieser Art von Erweiterung
handelt es sich um die Säkularisierung, bei dem Erweiterungsbegriff
von Beuys hingegen um die Spiritualisierung der Kunst. Die Logik des
Ready-made hat zwei Richtungen: neben der „Transfiguration“ des
Gewöhnlichen geht sie im Grunde zum Naturalismus: das vormals
Mythische, Hohe und Ideelle wird negiert zu Gunsten der Alltagsrealität
und Warenwelt.

Gnosis
Der Kunstbegriff ist abhängig von der Frage, was der Mensch ist. Wir
kommen aus der Tiefe; aus spiritueller Sicht sind wir Doppelwesen, in
denen zwei parallele Evolutionen nebeneinander herlaufen: eine physische
und eine metaphysische. Im Rahmen der biologischen Evolution
ist der Mensch vollständig determiniert, doch seine geistige Evolution
ist von der biologischen im Prinzip unabhängig. So ist das Sein in
seiner Ganzheit potentiell in seinem Bewusstsein angelegt, denn der
biologische Körper ist Träger eines „Mikrokosmos“, einer kleinen
Welt. Unser Dasein in der Materie ist nur halbreal, es ist schattenhaft;
doch auf dem Grunde unseres Wesens, in der dionysischen Sphäre des
Unbewussten, ist unsere Seele mit ihrem transzendenten Ursprung
verbunden. Platonisch ausgedrückt: die Seele ist in der Materie verkörpert,
und aus dem Unbewussten des Menschen steigt ihm die Erinnerung an
seinen geistigen Ursprung herauf. Zwischen biologischem
und transzendentem Bewusstsein besteht eine Kluft, die jedoch
überbrückt und gefüllt werden kann, denn das Bewusstsein der Seele
ist nicht nur separat und von der Materie unabhängig, sondern vor
Allem auch integrativ; vorausgesetzt, dass das Ich, als ein Bewohner
des Selbstbewusstseins, seine die Persönlichkeit beherrschende Rolle
aufgibt. Die Seele hat die Tendenz, sich von der begrenzenden Egozentrik
und von der Materie in Gänze zu befreien, und das ist die einzige
Begründung der menschlichen Freiheit. Unterhalb und oberhalb
der materialistischen Weltanschauung und unseres Alltagsbewusstseins
von einer Körperwelt fließt der wahre Strom unseres Lebens.
Vergeblich versucht die Ich-Persönlichkeit, das Ur-Chaos der Natur zu
rationalisieren, mit Wissenschaftlichkeit zu begreifen. Doch durch ihr
Scheitern und den Schmerz eines sich ihr nur in Fragmenten und
Begrenzungen zeigenden Lebens werden ihr die Gesetze des Seins
bewusst. Aus dem Antagonismus und der Zerrissenheit der Naturordnung,
aus den Verwüstungen und der Leere der rein materiellen Welt, sucht
die Seele den Aufstieg in die Sphäre des absoluten Geistes.

Die Gnosis als eine Form des Neuplatonismus hat als Unterströmung
seit der Antike bis heute die europäische Kultur mitgeprägt und inspiriert.
Vor diesem Hintergrund kommt die Rückbindung der Kunst an
die dionysischen Untergründe des Lebens wieder ins Blickfeld. Die
Avantgarde-Logik der Moderne ist schon lange obsolet. Die normativen
Theoriebildungen und Diskurse der Westkunst sind angesichts der
Macht der globalen Kunstproduktionen kraftlos geworden. Was ist,
nach Reduktion, Negation und Dekonstruktion, die eigentliche
Substanz der Kunst? Sie bewahrt die metaphysische Erinnerung, sie
materialisiert Imaginationen aus dem geistigen Hintergrund unseres
Seins. Sie erschafft in ästhetischer Form Metaphern und Symbole des
Universellen. Kunst ist das „sinnliche Scheinen der Idee“. Es kann
jedoch nicht darum gehen, Formen der Klassischen Moderne nachzuformulieren
oder sich mit Esoterik und New Age, verbrauchter Mythologie und
rückwärtsgewandter Weltflucht zu begnügen. Die spirituelle Transformation
der Kunst kann sich in der jetzigen historischen Situation, in einer Inflation
des Visuellen, zuerst nur im Denken vollziehen. Dazu ist eine innere
Kontextverschiebung notwendig, eine Veränderung des Blickwinkels, ein
Wechsel des Standorts. Beuys sprach in diesem Zusammenhang über
die Transformation des Denkens durch den „Wärmecharakter“.
Der Künstler kann von seiner rein subjektivistischen Intention abrücken
und andere, objektive Strukturen in seiner Arbeit durchklingen lassen.
Die Ideologien einer atheistischen, materialistischen Moderne mit ihrem
Subjektivismuskult gilt es zu transzendieren, denn dies ist eine Kultur,
die restlos verbraucht und der heutigen Realität nicht mehr adäquat ist. Durch
unsere Einbildungskraft – die ein Seelenvermögen ist, sie ist das sich
aus sich selbst Bildende, eine Keimkraft der Natur – entstehen
Sprache, Denken, Bilder, diese entstammen der gleichen Quelle.
Einbildungskraft ist so gesehen ein apollinischer Begriff. In ihr konzentrieren
und artikulieren sich Naturenergien, die sich – nach der Auflösung des
Ego-Blocks – als Ideen dem Menschen mitteilen.

Die Bedeutung der Kunst besteht zweifellos auch darin, dass sie unser
Leben und die Natur in eine seelisch-geistige Transformation hineinführen
kann. Hier hat Joseph Beuys angesetzt, indem er eine solche
Erneuerung mit seinem „Erweiterten Kunstbegriff“ zu realisieren versucht
bzw. auf den Weg gebracht hat. Es handelt sich dabei um eine
spirituelle Revolution, die den Menschen und alle Bereiche des Lebens
umfasst, die also auch die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit
nach ganzheitlichen Kriterien realisieren will. In seinem Werk ist
eine Vielzahl spiritueller Denkformen und Imaginationen konzentriert
und es bietet eine Fülle an Anknüpfungsmöglichkeiten. Kunst hat bei
ihm einen alchemistischen Charakter, das heißt, sie ist die Methode
der Transformation des Menschen. Die „7000 Eichen“ in Kassel sind
das weltweit ausstrahlende Symbol für eine den materialistisch-säkularen
Kunstbegriff überschreitende Gestaltungspraxis im sozialen
Organismus. Das anthroposophische, paracelsische Konzept der Dreigliederung
findet sich bei ihm an zentraler Stelle, er nannte es „Die Plastische Theorie“.
Die Idee der Dreigliedrigkeit ist nicht nur als Ordnungsmodell des
Denkens, sondern als ontologisches, universelles Seinsprinzip zu verstehen.
Wir haben es hier mit einer Ideenkontinuität zu tun, die sich schon bei
Platon findet und tief in unserer europäischen metaphysischen Kultur
verankert ist. Beuys hat deutlich auf Schiller zurückgegriffen, nämlich
auf dessen Theorie vom Stofftrieb, Formtrieb und Spieltrieb, die dieser
in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ entwickelt
hat und auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Diese triadische
Denkfigur ist auch im Zusammenhang mit den Ideen der Frühromantiker
und der Philosophie des Deutschen Idealismus zu sehen. Rudolph Steiner
hat in seinem Vortrag „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“ das Konzept
von Schiller mit Goethes Naturphilosophie zusammengebracht.

Natura Naturans
Ein wichtiger Gewährsmann für die Wirklichkeit des dionysischen
Untergrundes ist der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph von
Schelling (1775–1854). Zusammen mit Goethe ist er der bedeutendste
Naturphilosoph an der Schwelle zur Moderne. Schelling hat in einer
historischen Situation, in der metaphysisches Denken im alten, ontologischen
Sinne – weil das ein Zurückgehen hinter Kant bedeutet hätte – bereits
verpönt war, Konzeptionen entwickelt, die für heutiges Denken von
unverminderter Gültigkeit sind. Er hat, als Philosoph des Deutschen Idealismus
ebenso wie Fichte, an die Transzendentalphilosophie Kants angeknüpft.
Doch er hat dessen skeptische Begrenzung des Erkennens überwunden,
und aus diesem Grunde ist diese Konstellation bedeutsam für heutige Ideen
über Kunst und Natur. In einer Vielzahl von Ansätzen versuchte er, die
tatsächlichen, realen Seinsbedingungen der Natur in ihrer Entstehung
und in ihren sich wandelnden Formen zu erkennen. Er hat parallel
zur transzendentalen Erkenntnistheorie bzw. auf ihr aufbauend eine
Naturphilosophie entworfen, in der er nicht mehr nur die Bedingungen
der Möglichkeit des Erkennens untersuchte und Erkenntnis auf die
internen Vernunftkonstruktionen des Selbstbewusstseins beschränkte.
Sondern dadurch, dass der Mensch der unendlichen Produktivität
der Natur selbst entstammt und in ihr ist, kann er aus ihrem unbewussten
Sein heraus zum Bewusstsein der Natur gelangen. Im Selbstbewusstsein des
Menschen erkennt die Natur sich selbst, indem er die Prozesse der
Natur im Denken rekonstruiert. Das Selbstbewusstsein ist eine Steigerung,
eine Metamorphose, eine höhere Potenz des Naturprozesses.
Es ist allerdings wichtig, dies nicht in der uns heute vertrauten materialistischen
Vorstellung der darwinistischen Evolutionstheorie zu sehen, die Schelling
noch nicht kannte. „Durch den Akt des Selbstbewusstseins
muss uns gleichfalls ein Begriff entstehen, und dieser ist
kein anderer als der des Ich“ (System des transzendentalen Idealismus).
Alles Wissen entsteht in der Reflexion des Selbstbewusstseins.
Das Ich ist bei Schelling aber keineswegs das empirische Ich, auch ist
es nicht nur das Prinzip der Erkenntnis, wie bei Kant, sondern es ist
das Sein selbst. Die Formel „ich bin ich“ ist der sich selbst tragende
Ausgangspunkt, der Grund, von dem aus sich in der Reflexion die
ideelle Konstruktion der Natur entfaltet. Eine zentrale Idee ist die des
Organismus als eine Gestaltung der Natur, die sich aus der Duplizität
von Kräften entwickelt, eine Duplizität, der ihrerseits eine ursprüngliche
Einheit zu Grunde liegt. In der „Einleitung zu dem Entwurf eines
Systems der Naturphilosophie“ sagt er: „Denn wenn in jedem organischen
Ganzen sich alles wechselseitig trägt und unterstützt, so musste
diese Organisation als Ganzes ihren Teilen präexistieren, nicht das
Ganze konnte aus den Teilen, sondern die Teile mussten aus dem
Ganzen entspringen.“ An den Anfang seiner Ganzheitsphilosophie
setzt Schelling die unendliche Produktivität der Natur, in der, von
einer notwendigen Gegenkraft, die er als Hemmung bezeichnet,
begrenzt, sich der Organismus bildet. Die Wirbelmetapher macht das
deutlich: In einem unendlich fließenden Strom ist der Wirbel, indem
er sich an einer Stauung manifestiert, eine sich gleich bleibende Form,
die ständig durchflossen sich lebend verändert. Analog zu der Vorstellung
des Pythagoras: Alles ist Zahl, könnte man im Sinne Schellings
sagen: Alles ist Organismus. Er unterscheidet, im Anschluss an
Spinoza, zwischen der Natura Naturata, der gewordenen Natur, womit
das Naturprodukt als objektivierbarer und erforschbarer Gegenstand
gemeint ist, und der Natura Naturans, also der werdenden
Natur, die als metaphysische Ganzheit gedacht werden muss. Damit
wird die Natur zum Subjekt, in der der Mensch integriert ist und
dementsprechend niemals – jedenfalls nicht mittels der Ratio – als
Subjekt vollständig heraustreten kann. Die absolute Produktivität ist
nicht objektivierbar.

Allgemein ist der Glaube verbreitet, dass die heutige objektivierende
Naturwissenschaft uns die Wahrheit sagt über die Tatsachen und das
Leben. Doch das ist ein Vorurteil. Wahrnehmungen und Erkenntnisse,
auch die der exakten Wissenschaften, sind niemals rein objektiv, das
heißt vollständig unabhängig vom Subjekt, sie sind immer subjektbedingt,
sind gebunden an den Bedingungen des menschlichen Bewusstseins
mit seinen spezifischen Erkenntnismöglichkeiten. Wenn auch die
Natur von Zahlen durchzogen ist, so existieren die rationalistischen
Theorien nicht außerhalb des Bewusstseins, sind nicht ontologisch in
der Natur zu finden; sie sind im Bewusstsein entstanden, das heißt, es
sind intellektuelle Konstruktionen. Wissenschaft ist relativ, sie ist
abhängig von historischen Kontexten und Paradigmen, sie arbeitet
auf der Grundlage von Voraussetzungen, die im Allgemeinen nicht
hinterfragt werden. Die Wissenschaft zeigt uns eine Theorie über das
Sein, doch nie das Sein an sich. Wir erfahren durch sie etwas darüber,
wie die menschlichen Vorstellungen und Theorien über die Wirklichkeit
in einer bestimmten Epoche aussehen. Ihre Methoden bilden keineswegs
die Tatsachen objektiv und neutral ab, sondern sie bringen
die Ergebnisse ihrer Forschung selbst hervor. So sind wissenschaftliche
Theorien ebenso Erfindungen des menschlichen Geistes wie die
Gegenstände der Kunst und können keineswegs eine höhere Form
der Wahrheit beanspruchen.

Kunst und Wissenschaft unterscheiden sich unter anderem durch das
Maß der Distanzierung und Objektivierung. In Schellings Kunstphilosophie
ist der Künstler derjenige, durch den die Natur wirkt, indem er
selbst Anteil hat an ihrer Produktivität. Aber sein Schaffen ist nicht
nur unbewusst, denn in ihm verbindet sich das Unbewusste mit dem
Bewussten, das Unendliche mit dem Endlichen, das Ideelle mit dem
Realen. In der Kunst sah Schelling die höchste Form der Wahrheit
ausgedrückt, weil sich in ihr einmal die Urbilder der Natur selbst zeigen,
zudem aber auch die Ideen der Philosophie sinnlich anschaulich
werden. Die ideellen Konstruktionen der Philosophie finden in der
Kunst ihre sinnliche Anschauung. Im Kunstwerk werden die objektiven,
lebendigen Ideen als in der Wirklichkeit tätige Prinzipien sichtbar
und erfahrbar. „Jedes Gemälde öffnet die Intellektualwelt“ (Philosophie
der Kunst). Die Strukturprinzipien der Natur sind analog zu den
Urbildern der Mythologie. In diesen Sphären, den Ideen der Natur
und den Bildern der Mythologie, liegen der Stoff und die Materie der
Kunst. Der Ursprung der Ideen und Archetypen ist das Chaos als das
ungeschiedene Eine. Der Künstler schafft aus dem Chaos, aus der
unbewusst in ihm tätigen Natur, aber er reflektiert ebenso den
Prozess, in dem die Universalien ins Sichtbare treten, anschaulich werden
in der Einbildungskraft des sich selbst bewusst werdenden Ichs.

Bei Schelling wird der Künstler zum Medium des Absoluten, indem
in ihm die Unendlichkeit sich begrenzt und Form wird. In seiner Philosophie
besteht die Kontinuität des Bewusstseins zwischen der unbewussten
Sphäre der Natura Naturans und der bewussten Reflexion
des Ichs als höhere Potenz, was auch die rationale wissenschaftliche
Erkenntnis einschließt. Der aufgeklärte theoretische Mensch bei
Nietzsche hingegen ist von den dionysischen und apollinischen
Sphären bereits völlig ausgeschlossen; irritiert und verständnislos
blickt er, am scheinbar festen Ufer stehend, auf die dionysische See
zurück, auf die dunklen Tiefen aus Schmerz und Schönheit, die er
nicht mehr fühlen kann und wirft stattdessen sein Netz der Ratio aus.
„... eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des
Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das
Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe
des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen,
sondern sogar zu corrigieren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische
Wahn ist als Instinkt der Wissenschaft beigegeben und führt sie
immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst
umschlagen muß: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus,
abgesehen ist.“ (Die Geburt der Tragödie)

Manfred Frank schreibt in seinem Dionysos-Buch, dass die romantische
Naturphilosophie die Natur von Ideen durchzogen dachte und in
dieser Naturvergeistigung eine Vorbereitung sah für den „kommenden
Gott“. Mythische Figuren und universelle Naturstrukturen als Verkörperungen
von Ideen und Manifestationen des Geistigen kündigen
das Kommen des Dionysos-Christus an. Die geistigen Strömungen der
Frühromantik und des Deutschen Idealismus waren der „Advent“
einer postsäkularen, spirituellen Erneuerung in der deutschen Kultur.
Hier liegen Ideenkontinuitäten vor, die von Jakob Böhme, Friedrich
Schlegel, Hölderlin, Novalis, Schelling, Hegel, Nietzsche bis zu Joseph
Beuys führen. Der kommende Gott ist der Gott im Inneren, der
Christus-Impuls, der im seelischen Innenraum des heutigen Menschen
lebendig werden kann. Er ist eine Kraft und ein neues Denken, die die
Erstarrungen des alten Ichs auflösen. Beuys bringt diesen Gedanken
so auf den Punkt: „Und das ist eine andere Gestalt als die alte. Es ist
also das Auferstehungsprinzip: die alte Gestalt, die stirbt oder erstarrt
ist, in eine lebendige, durchpulste lebensfördernde, geistfördernde
Gestalt umzugestalten … Das ist der erweiterte Kunstbegriff.“
(ChristusDenken“1996)

Konstruktion
Hier soll der Versuch gemacht werden, den Weg zu einem Ganzheitswissen
in der Kunst wieder herzustellen durch die Rückbindung der
Kunst an neuplatonische und naturphilosophische Vorstellungen.
Jetzt, nachdem die Diskurse der Moderne und Postmoderne ihre normative
Kraft verloren haben, ist der Raum geöffnet für neue Ideen. Es
geht darum, die Malerei wieder in den Dienst des Geistes zu stellen.
Jahrzehntelang ist die Entwicklung durch den Modernismus der
Greenberg-Doktrin und andere Ideologien dominiert worden. Der
amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg stülpte seine unkünstlerischen,
strukturalistischen Theorien über die Malerei und beeinflusste
die Entwicklung maßgeblich. Von allen Aspekten bereinigt,
die dem Wesen des Bildes angeblich nicht entsprächen, war sein Ziel
eine reine Malerei, wobei das „Ideal der Reinheit“ in der „Physikalität
des Mediums“ zu finden sei. Welch merkwürdiger Platonismus,
der das Bild als werdende, zu sich selbst kommende Materie sieht und
innerhalb einer materialistischen Denkweise vom „Wesen“ spricht.

Von diesen und anderen Dogmen befreit, kann sich der Künstler
Gestaltungsmethoden zuwenden, die sich an den wirklichen Bedingungen
des menschlichen Lebens orientieren. Schelling sagt: „Die bildende
Kunst steht also offenbar als ein tätiges Band zwischen der
Seele und der Natur, und kann nur in der lebendigen Mitte zwischen
beiden erfasst werden.“ (Über das Verhältnis der bildenden Künste zu
der Natur). Hinter den Erscheinungen, unter der Oberfläche unserer
sinnesorganischen Wahrnehmung, wirken die Archetypen, die wir in
unseren inneren Anschauungen, im Fühlen und Denken, erleben können.
Wenn die Seele als eine Bewusstseinsebene begriffen wird, die
potentiell fähig ist, das biologische Bewusstsein zu transzendieren,
kann sich eine neue Wahrnehmung entwickeln. Die Archetypen teilen
sich energetisch und psychisch mit, sie sind fühlbar; die Erkenntnis
von Ganzheitsstrukturen ist a priori in der menschlichen Natur verankert.
Die Rhythmen und Universalien der Natur zu erkennen, setzt
allerdings eine Aufgabe der Distanz und einen Kontrollverlust voraus,
also einen anderenWahrnehmungszustand, damit das Objektive durch
das Subjekte hindurch scheinen kann. Wenn die Last der physischen
Welt, die uns umklammert, in besonderen Momenten der seelischen
Öffnung nachlässt, erleben wir Ungewohntes, Neues. Vom Druck der
Materie befreit, erscheinen Faune. Das Relief, das die Bewegung des
Wassers auf dem sandigen Grund hinterlässt; die Zeichnung von
Ästen und Zweigen vor der Helle des Himmels fesseln unseren Blick,
wir erleben eine Sprache, die flüsternd in uns eindringt und uns energetisiert.
Die zeichenschaffende, sprechende Natur teilt sich dem Menschen mit.
Die universellen, von der konkreten Ding- und Erscheinungswelt
abgezogenen Strukturen erzeugen eine Resonanz im Gefühl. Sie sind
Anschauungen von Ideen und regen uns an, die Seinsprinzipien,
die sich in ihnen manifestieren, gedanklich zu erfassen. Da das Archetypische,
wie schon gesagt, sich dem rational-analytischen Blick jedoch nicht zeigt, ist
die Überwindung von Skeptizismus und Nominalismus die Voraussetzung,
damit sich Resonanz ereignen kann und der innere Zugang zu den Substanz-
begriffen sich wieder öffnet. Begriffe sind Universalien, in denen reale Kräfte
wirken. Wenn künstlerische Gestaltung mit den Denkformen der Natur-
philosophie zusammengebracht wird, werden naturphilosophische Prinzipien
sowohl zum Inhalt als auch zur künstlerischen Methodik. Der Naturbezug des
Künstlers besteht nicht darin, dass er die Erscheinungswelt abbildet, sondern
ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und Strukturen, apollinisch ins Denken
gehoben, zum Inhalt der Kunst macht. Das Kunstwerk, so gesehen, wird zu
einer Nachahmung natürlicher Prozesse, wenn die Energien und Ideen der
Natur, die Prinzipien der Natura Naturans, sich dem imaginativen Denken
mitteilen. Das Denken folgt einer natürlichen Logik; der Maler folgt der
Selbstbewegung der Bildkräfte. Die Natur selbst erschafft das Kunstwerk,
wenn sie in der Methode des Künstlers ist, aus ihr die künstlerische
Vorgehensweise sich ableitet. Der Aufbau des Bildes wird aus den
natürlichen Gesetzen der bildnerischen Kräfte geboren. Das Werk
ist Imagination der Formen und Rhythmen der Natur. Jedoch besteht
ein Unterschied zu den vitalistischen Konzepten des Informel oder
anderen Trieb- und Instinktstrategien der Moderne, die die Intention
hatten – zu Gunsten des unmittelbaren, freien Ausagierens naturhafter
Impulse – das Denken, einseitig und reduziert als Rationalismus gesehen,
zu dekonstruieren; nein, der hier gemeinte Bildprozess besteht
aus der Dialektik von unbeherrschbaren Energien, denen bewusste
Ideen gegenüberstehen, und – drittens – einer vermittelnden Ebene,
das Herzstück dieser Konzeption, in der sich der Antagonismus in der
Empfindung synthetisiert und steigert. Im Erleben und Handeln sind
wir dem Dualismus unterworfen; das Gipfelerlebnis der Vereinigung
ereignet sich momenthaft in der seelischen Intuition. Im Antagonismus
liegt das Dritte in der Mitte als Mysterium verborgen. Die Navigation in
den Zusammenhängen dieser drei Komponenten, darin liegt die Fundamental-
struktur der Kunst.
Ein künstlerisches Handeln im Einklang mit der Natur ist hier
gemeint, und zwar, wie gesagt, auf der Grundlage eines naturphilosophischen
Kunstbegriffs, durch die Analogie der Gesetze von Natur und Kunst.
Eine solche künstlerische Praxis, die Arbeit im Bereich der
universellen Strukturen, wird somit zur permanenten Suche und zu
einem Weg des Bewusstseinswandels durch das Üben mit naturanalogen
Prinzipien. Wenn Schelling sagt: „Die Bedingung aller Gestaltung
ist Dualität“, bedeutet dies in der Praxis, dass die Gestaltung erstmal
dem allgemeinen Antagonismus der Kräfte unterliegt und dass der
Künstler dem Antagonismus folgt, indem er die Gestaltungsmittel in
ihrer Polarität begreift und anwendet und selbst im Antagonismus der
Pole ist. Jede Konkretisierung der Bildkräfte fordert ihren Ausgleich
und ihren Gegenpol, im Fortschreiten konstruiert sich das Bild vom
Einfachen zum Komplexen. Dabei durchläuft es verschiedene Phasen:
Verdichtung, Festigung, Erstarrung, Auflösung, Chaos und erneute
Konkretion.

Am Anfang der Gestaltung steht, als dynamisierendes Prinzip, die
Spaltung eines einheitlich amorphen Zustandes. Das Bild als ein indifferenter
existentieller Raum wird durch das erste Handeln polarisiert.
Das Grundgesetz der Natur ist die Zweipoligkeit, ihre Dynamik ist
Widerstreit – aber auch Wechselwirkung, das Drängen zur Auflösung
von Spannungen, zu neuer Integration und Harmonie sind in ihr verborgen.
Wie das Auge jeden Farbeindruck mit dem Gegenteil ausgleicht,
folgt auf jeden einseitigen Formimpuls sein Gegenpol. Komplementarität
ist das Phänomen der sich ergänzenden Gegensätze. Der
Raum unseres Daseins, der in unendlichen Variationen und Metamorphosen
von geometrischen und organischen Grundformen durch-
wirkt ist, wird im Bild rekonstruiert, indem seine Strukturen zur
Wirkung kommen. Die Natur ist phythagoreisch von Geometrien,
Zahlen und harmonikalen Proportionen durchzogen. Hinter den farbigen
Erscheinungen wirken die Urphänomene, wie Goethe sie in
seiner Farbenlehre beschreibt; ebenso liegen der Mannigfaltigkeit der
organischen Formen, der Vielfalt der Erscheinungen, durchgängige
Urtypen zu Grunde; die Entelechien sind die Subjekte der Evolution.
Die Formen zeigen Zentrumsbildungen, Mittelachsen und Symmetrien,
Rhythmen, Gliederung und Wechselwirkung zwischen den
Teilen. In der organischen Konstruktion des Bildes kommen diese
Prinzipien zur Anwendung. Zweifellos sind sie in irgendeiner Form in
den meisten Bildern enthalten, entscheidend ist jedoch, ob sie unbewusst
gehandhabt werden, willkürlich, gewohnheitsmäßig, im Rahmen
subjektiver Konzepte, oder ob sie darüber hinaus als universelle
Seinsprinzipien begriffen werden können, wodurch sich Abgründe der
Erkenntnis öffnen. Nach dem Vorbild des Organismus ist das Bild ein
in Teilen gegliedertes Ganzes, das aus seinem – unter Umständen verborgenen
oder indirekten – Zentrum den Zusammenhang der Teile
gewährleistet. Wie weit diese Idee reicht, wird noch mal durch ein
Fragment von Novalis deutlich: „Den Organismus wird man nicht
ohne Voraussetzung einer Weltseele, wie den Weltplan nicht ohne
Voraussetzung eines Vernunftwesens, erklären können.“
Organische Gestaltung ist die dialektische Konstruktion aus den Ideen
der Natur, nach den Bildungsgesetzen der Natur. Organische Gestaltung
bezieht sich also auf die Ordnung eines lebendigen Ganzen. Die
Organismus-Idee ist häufig missbraucht worden, besonders durch die
nationalsozialistische Ideologie, doch unter den Voraussetzungen eines
neuen, zukunftsweisenden Natur- und Kunstbegriffs muss sie aus
diesen Niederungen erlöst werden. Manfred Frank rekonstruiert in
seinem Dionysos-Buch die Organismus-Konzeption als eine der
Kernideen des romantischen Denkens, wie sie sich auf der Grundlage
von Kants „Kritik der Urteilskraft“ und weiterhin im Deutschen
Idealismus entwickelt hat und sagt: „Obwohl häufig korrumpiert in
seiner Wirkungsgeschichte, hat die Idee vom Organismus ihre normative
Kraft keineswegs an die Gegenaufklärung verloren“.

Form ist im Tiefsten eine mystische Erfahrung. Das Bewusstsein synthetisiert
disparate Erscheinungen zur Ganzheit, es erkennt die Einheit
in der Vielheit, das Bild rundet sich. In der Natur stehen konstante
Formprinzipien dem Formverlust permanent gegenüber. Zwischen der
geometrischen Struktur, dem Höhepunkt der platonisch-rationalen
Abstraktion der Klassischen Moderne auf der einen Seite und Informel
und Dekonstruktion andererseits liegt – als Vermittlung dieses
Antagonismus und entscheidender Fortschritt – die natürliche, organische
Konstruktion. Vorbild hierfür sind die Morphologien des Lebendigen,
natürliche Wachstumsstrukturen und die Bewegungsformen
des Flüssigen wie etwa Wirbel und Wellen. Die Bildfläche als
zweidimensionale geometrische Gegebenheit generiert verschiedene
Möglichkeiten der Gliederung und Formung. Nachdem, wie gesagt,
das rationalistische Prinzip aus Geraden und rechten Winkeln ebenso
wie seine Dekonstruktion überwunden sind, öffnet sich eine neue
Passage in der Mitte zwischen Form und Chaos: die organische
Konstruktion aus rhythmischen, wellenförmig gekrümmten Linien.
Sie ist gleichermaßen Verflüssigung der Form und Geometrisierung
des Amorphen. Die Fläche wird dabei in Segmente und Zellen gegliedert,
die kontinuierlich zusammenhängen und fortlaufen wie ein
Zellverbund oder die Struktur der Bienenwabe. Die Anzahl der räumlichen
Grundformen in der Natur ist begrenzt: neben den fünf gleichseitig
regelmäßigen Formen des dreidimensionalen Raumes, den
Platonischen Körpern, gibt es drei regelmäßige geometrische Flächenformen,
die ohne Zwischenraum die Fläche füllen: das Quadrat, das
gleichseitige Dreieck und das Sechseck. Das Letztere hat sowohl zum
Quadrat als auch zum Kreis eine Affinität und bildet zwischen diesen
beiden einen Übergang. Während Kreisformen autonom, gewissermaßen
egozentrisch sind und keine gegenseitige Verbindung eingehen,
lassen sich Sechsecke – als eine Winkelform, die dem Organischen am
nächsten ist – lückenlos zu einer kontinuierlichen Fläche aneinanderfügen,
sie decken eine Fläche vollständig ab. Die hexagonale Struktur
ist regelmäßig und zentrumslos, eine kontinuierliche Füllung, die in
der Chaosforschung als „Parkettierung“ bezeichnet wird. Dort wird
von einer „Netzebene“ gesprochen und von „Elementarzellen“,
wobei der Begriff der Zelle dem Organischen entlehnt ist. In gleicher
Weise ist die fluide Konstruktion aus Wellen eine kontinuierliche
Gliederung der Fläche aus sich organisch – nicht geometrisch – und
ohne Rest verzahnenden Einheiten. Die sich so manifestieren Wechselfelder
sind eine Umwandlung der Geometrie der Wasseroberfläche in
Malerei. Es bildet sich ein flüssig-hexagonales Gefüge. Aus dem
anfänglichen Ganzen der Fläche gliedern sich zusammengehörende
Segmente, die dadurch, dass sie gleichrangig aneinander gelegt sind,
als Figur-Grund-Ambivalenz erscheinen und als Teile des Ganzen
energetisch in Wechselwirkung stehen. Bei solchermaßen nebeneinander
liegenden, aus Bewegungsformen des Flüssigen sich bildenden
Zellen verbinden sich Figur und Grund organisch, sie fügen sich auf
eine selbstverständliche Art zusammen, mit einer natürlichen, vom
Ganzen abgeleiteten Logik. Hierin liegt auch die Überwindung des
klassischen Figur/Grund-Prinzips, jedoch nicht durch Verneinung und
Nivellierung der Gegensätze, sondern erstmal durch Öffnung und
Verflüssigung von Hierarchie und Dualität, durch schwebende
Gleichrangigkeit, Ambivalenz oder Umkehrung von Figur und Grund;
durch die Auflösung erstarrter Hierarchien von positiver Figur einerseits
und auf der anderen Seite dem Hintergrund als negative, zweitrangige
oder untergeordnete Größe. Im Normalfall ist die menschliche
Wahrnehmung so angelegt, dass sie sich auf eine zentrale Form im
Sehfeld konzentriert und diese als Halt und Ausgangspunkt für das
Ganze nimmt, ihr also die primäre Bedeutung beimisst und andere
Wahrnehmungszonen unterordnet. Die Wahrnehmung ist selektiv und
hierarchisch, sie favorisiert ein dominantes Feld, irritierende Impulse
aus der Peripherie werden zweitrangig behandelt oder ignoriert. Aus
der Teilwahrnehmung wird ein Ganzes konstruiert. Ein Zentralmotiv
gibt Sicherheit. Es erfordert nun ein bewusstes Umdenken und eine
veränderte und erweiterte Wahrnehmung, sich von diesem ab und
dem vernachlässigten Umraum zuzuwenden. Dieser hat im Allgemeinen
nur eine dienende Funktion, indem er den Hauptakteur trägt.
Jetzt bekommt er eine neue Bedeutung, jedoch nicht nur als Ressource,
aus der neue Figuren entstehen, sozusagen permanent nachwachsen;
der also erst dann einen Wert erhält, wenn er aufhört, Grund zu sein
und umgewandelt wird in Figur. Nein, in der neuen, erweiterten,
defokussierten Sicht bleibt der Grund als solcher bestehen, er emanzipiert
sich als Intervall. Sein Zweck ist es, die Figur zu ermöglichen.
Dabei wandert das Sehen in einem ständigen, flexiblen Umschlagen
der Figur-Grundbeziehungen, es liest die Struktur im Umdrehen der
Polaritäten. Ein offenes, meditatives und defokussiertes Sehen, ein solches,
das weder Konstellationen hierarchisch fixiert noch isoliert, sondern flüssig
zwischen den Polen wechseln kann, das eine Form erkennt bei
gleichzeitiger Einbeziehung ihres Gegenpols, das den Übergang einer
Größe in ihr Gegenteil mitvollzieht; ein solches Sehen überschaut die
Komplementarität des Ganzen und ruht in der Flüssigkeit des Musters.
Diese Art des Sehens ist, weil die Phänomene so in ihrer Dialektik
eher erkannt werden können, die Voraussetzung für eine zeitgemäße
Wirklichkeitswahrnehmung insgesamt. Bei dem Prinzip der Doppelwertigkeit
und wechselseitigen Gleichrangigkeit, beim Vortreten des passiven
Hintergrundes und dem Zurücktreten der aktiven Figur, wenn der
zurückgedrängte, übersehene, verdrängte Hintergrund sein Recht fordert,
öffnet sich die Bildfläche. Pluspol und Minuspol sind in der Verschiedenheit
ihrer Qualitäten gleichrangig, männliche Dominanz und weibliche
Empfänglichkeit, die sich durchsetzende Gestalt und der tragende Grund.
Durch diese zweiseitige Wirksamkeit des Flächengrundes erweitert sich der
Blick, die gegensätzliche, rhythmische Struktur energetisiert das Sehen,
ruft die Form im Sehen aktiv hervor. In der Geometrie der Wellen ist
Offenheit, der Betrachter ist angeregt, flexibel mehrere Muster zu identifizieren,
wobei die endgültige Fixierung sekundär bleibt. Der Bildraum aus Wellen ist ein Konstruktionsprinzip, aber er ist gleichermaßen eine existentielle Metapher,
ein Bild für ganzheitliche Lebensprozesse. Inhalt und Form sind identisch.
Das darin liegende energetische Potential ist deutlich fühlbar. Wie das Wasser
der Ursprung des Lebens ist, so ist das gewellte Feld die Matrix für Gestaltbildung.

Merkur
Eine zentrale Entwicklungslinie innerhalb der Kunst der Klassischen
Moderne lässt sich als Abstraktionsprozess begreifen. Auf die Malerei
bezogen war dies das Abziehen der bildnerischen Mittel und Strukturen
von der naturalistischen Form und deren Emanzipation und
Eigendynamik. Es gibt keinen Grund, diesem Aspekt der Moderne,
den Hoffnungen, die mit der Abstraktion und dem „Geistigen“ verbunden
waren, grundsätzlich zu misstrauen und sie mit postmoderner
Skepsis als gescheitert einzustufen – gescheitert ist die anti-metaphysische,
ausschließlich auf Materialismus ausgerichtete Modernität.
Gescheitert ist weiterhin die Anschauung, das „Geistige“ einseitig mit
Rationalismus gleichzusetzen. Im Gegenteil, ein geistiger Prozess hat
sich vollzogen – beginnend mit der Abkehr von Naturalismus und
Mimesis – der aber im Rahmen des sich zuspitzenden Materialismus
im 20. Jahrhundert nicht fortgesetzt werden konnte. Postmoderne
Negationen und Demontagen sind Indizien dafür, dass man an die
schon erreichte geistige Höhe in der Folgezeit nicht mehr anschließen,
den Sinn nicht mehr unmittelbar begreifen konnte und zurückfiel.
Eindeutig ist dies an dem derzeit in weiten Bereichen der Kulturen
vorherrschenden Neonaturalismus zu erkennen. Der Abstraktionsprozess
und Vergeistigungsvorgang hingegen, der sich im letzten Jahrhundert
vollzogen hat, lässt sich auch als alchemistischen Prozess sehen. Dieser
Faden kann, mit neuen Perspektiven einer tieferen Spiritualität
verbunden, wieder aufgenommen werden, denn die Mysterien,
die in Natur und Kunst verborgen sind, haben sich in den Entdeckungen
der Moderne erst teilweise manifestiert. Allgemein ausgedrückt,
ist die Alchemie die Kunst der Umwandlung und Erhöhung der
Natur, der Gestaltwandel von einer niedrigen in eine höhere Manifestation,
die Metamorphose oder Transmutation von Blei in Gold.
Als ein spezielles Gebiet der Naturphilosophie ist die Alchemie eine
Form von Naturwissenschaft und wird fälschlicherweise für überholt
gehalten.

Ein zentraler Begriff der hermetischen Kunst ist die Prima Materia,
eine Vorstellung, die dem Begriff der Natura Naturans Schellings
ebenso entspricht, wie sie mit der Sphäre des Dionysos zusammenkommt.
Die Prima Materia ist die ursprüngliche, undifferenzierte,
reine Natur. Sie polarisiert sich in zwei Urprinzipien, in zwei Schöpfungskräfte:
Schwefel (Sulphur), das feurige, aktive Prinzip und Quecksilber (Merkur),
das passive Prinzip. Paracelsus hat mit demPrinzip Salz (Sal) einen weiteren
Aspekt hinzugefügt, auf ihn geht die Drei-Prinzipien-Lehre zurück.
Bei ihm teilt sich die ursprüngliche Einheit allen Seins in drei Naturprinzipien
auf. Am Beginn und auf dem Grund allen Werdens existieren also drei
metaphysische Substanzen als die drei Wurzeln des Weltbaumes: Sulphur,
Merkur und Sal. Der Mystiker Angelus Silesius sagt über sie im 1. Buch seines
„Cherubinischen Wandersmann“ (Vers 257):

Dass Gott dreieinig ist, zeigt dir ein jedes Kraut,
Da Schwefel, Salz, Merkur in einem wird geschaut.“

Der Sulphur entspricht dem Geist und dem feurigen Willen, der
Merkur der Seele und das Sal der Materie, dem Körperlichen und den
materiellen Formprozessen. Merkur kann als wässriges oder als luftiges
Prinzip aufgefasst werden, es besteht eine Entsprechung sowohl
zur Empfindung und auch zum Denken. In den Naturobjekten – es
können Pflanzen oder Metalle als Ausgangsmaterial genommen werden
– sind die drei Prinzipien immer in verschiedenen Verhältnissen
und auch unkenntlich gemischt. Sie müssen im alchemistischen
Prozess vom Forscher vorübergehend getrennt und durch eine Reihe
von Operationen geführt werden, wobei der entscheidende Punkt
darin besteht, die in der Materie verkörperten geistigen Kräfte herauszulösen
– oder, anders gewendet, im Sinne der Kunst: das Wesentliche
von der Erscheinungsform zu abstrahieren. Das bedeutet, die in den
materiellen Strukturen verkörperten Lichtkräfte zu befreien. Nachdem
das Material durch verschiedene Phasen des Lösens und Bindens
gegangen ist und dadurch gesteigert wurde, ist das Ergebnis die
Quintessenz, das wahre Wesen der Dinge. Diejenigen, die sich bereichern
wollen, hoffen auf Gold; Paracelsus jedoch und die anderen
echten Forscher suchen nach Heilmitteln und höherer Erkenntnis. In
der Alchemie sind Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis eine Einheit,
in der Umwandlung der Substanzen sieht der Alchemist ein Bild für
seine geistig-seelische Erneuerung. Diese Art von Naturforschung hat
nicht das Ziel, mit den erkannten Gesetzen der Natur diese zu beherrschen
und auszubeuten, sondern dient der Förderung der Natur und
gleichermaßen der Transformation des menschlichen Bewusstseins.
Das Ziel der Alchemie ist die Vollendung der Natur, die Realisierung
dessen, was in der Natur als Möglichkeit angelegt ist: die Transformation
des biologischen Menschen in eine höhere, neue, geistige Existenzform.

Die Kunst – und alle Formen von Kreativität – als Alchemie verstanden
macht Seelenprozesse sichtbar und fördert sie, indem der äußere
Prozess der Materialgestaltung den Bewusstseinszustand spiegelt im
Sinne eines Parallelprozesses und einer Korrespondenz von innen und
außen. Der Kernsatz der Alchemie „wie oben, so unten“, der auf die
mythologische Figur des Hermes Trismegistos zurückgeht, deutet auf
die Analogie der Strukturen von Mikrokosmos und Makrokosmos
hin, von Innen- und Außenwelt. Wenn die Kunst zur alchemistischen
Operation wird, sind künstlerische Gestaltung und Selbsterkenntnis
eine Einheit, denn die materiellen Gegebenheiten sowie die Außenwelt
insgesamt sind Spiegelbild der Innenwelt – und umgekehrt, innere,
seelische Prozesse konkretisieren sich im Äußeren. Die Verwandlung
der Innenwelt hat zur Konsequenz die Verwandlung der Außenwelt,
denn die Gedankenwelt und der Wille des Subjekts konstituieren das
Außen.

Die drei Prinzipien der Gestaltung im Denken trennen zu können,
erfordert, sie überhaupt erstmal bewusst zu erkennen. Sie müssen aus
den üblichen Formen des Denkens, aus Logik, Traditionen, Gewohnheiten
und Ideologien herausgelöst werden, was wiederum voraussetzt,
im eigenen Wesen, parallel dazu, als Selbsterkenntnisprozess, die
verschiedenen Lebensimpulse zu entmischen und dadurch sich ihrer
bewusst zu werden. Der erste Schritt ist also Selbstwahrnehmung der
Lebensantriebe, die Trennung der Bewusstseinsteile, die Separierung
des Denkens und Fühlens aus den unbewussten Lebensinstinkten. Auf
jeden Fall ist die Voraussetzung für freie Willensentscheidungen das
Herauslösen der Lebensmotive aus dem unbewussten Naturtrieb der
Selbsterhaltung. In der Sprache der Alchemie: das innere Feuer der
Seele – Sulphur – erzeugt Hitzeprozesse, in denen die Erkenntnis – der
Merkur – sich von der materiellen Umklammerung – dem Sal – lösen
kann.

Es ist allerdings nicht unproblematisch, die hermetischen Prinzipien in
Begriffe zu übersetzen, da sie eine Bandbreite an Sinnzuweisungen
haben und, je nachdem, ob sie von der physischen oder seelisch-geistigen
Ebene betrachtet werden, sich auch in ihren Bedeutungen verschieben
und mitunter zu widersprechen scheinen. Die Basis der
hermetischen Kunst ist, wie schon gesagt, die ontologische Triodität,
auf der alle Gestaltung beruht. Drei durchgängige Prinzipien, drei
gleichberechtigte Komponenten des Gestaltens als die ersten drei
Archetypen, die dem Denken allerdings nur teilweise zugänglich sind,
gehen aus der Einheit des Urgrundes hervor. Diese Urkräfte und
Anfangsformen sind auch in den gestalterischen Mitteln des Künstlers
verkörpert. Die Entstehung eines Kunstwerkes ist also ein Naturprozess
zwischen den Polen Sulphur, Merkur und Sal, zwischen Wille
und Verstand, zwischen Energie, Form und deren Wechselwirkungen
und Steigerungen. In der Dreigliederungsidee der Anthroposophie
durchzieht diese Konzeption alle Bereiche der Wirklichkeit. Zwischen
dem Energie-Prinzip Sulphur und dem Form-Prinzip Sal ist Merkur
der Übergang, die rhythmische Vermittlung und Harmonisierung. In
der „Plastischen Theorie“ von Beuys finden wir die Begriffe Chaos –
Bewegung – Form. Der gelungene plastische Prozess ist demnach die
Einheit von ungerichteter, unbewusster Energie, des an Ideen orientierten
Denkens und, drittens, der Bewegung zwischen den Polen.
Diese dritte Ebene ist in der Alchemie von Beuys auch das Wärmeprinzip:
„Es kommt alles auf den Wärmecharakter im Denken an!
Das ist die neue Qualität des Willens“.

Die Operationen des hermetischen Werkes, die verschiedenen Arbeitsschritte,
sind: Solution, Separation, Mortifikation, Sublimation, Calcination,
Koagulation und Konjunktion. In der Anfangsphase liegt die
Operation der Solution. Sie ist die Auflösung der empirischen Form.
Durch sie werden die Qualitäten, die an oder in der körperlichen
Struktur gebunden sind, vom Körper gelöst, um darauf im Denken
unterschieden und getrennt werden zu können. Die Solution ist die
Operation des Wassers: die Auflösung alter, verfestigter Strukturen,
somit die Auflösung des verhärteten Egos, also eine Verflüssigung der
Persönlichkeit. Das Ich geht unter im Meer des Dionysischen. Das
Kristallisierte wird weich gemacht und aufgelöst als Voraussetzug dafür,
dass weitere Prozesse möglich werden. Die Separation, die darauf
folgt, ist die Trennung der Komponenten. Aus der Vermischung der
Materie wird Ordnung geschaffen durch Separierung und vorübergehende
Isolierung der drei Prinzipien Sulphur, Merkur und Sal. Dieser
Prozess entspricht auch der Gedankenoperation der Analyse. Auf dieser
Stufe bildet sich Bewusstheit und Unterscheidungsvermögen, wodurch
der Unterschied zwischen dem Seelischen und den biologischen
Lebensantrieben zunehmend erkannt werden kann. Wenn das am
Gegenstand als Einheit gegebene voneinander getrennt wird, werden
die spezifischen Qualitäten der drei Komponenten deutlich sichtbar.
Dabei kann man die Farbe in ihrer fließenden Beweglichkeit und ihrer
Entsprechung zum Gefühlsleben dem merkurialen Prinzip zuordnen.
Das Helldunkel als Ausdruck eines Gestaltungswillens mit seinen kontrastierenden,
polarisierenden Eigenschaften entspricht dem Sulphur und die Linie
als abgrenzendes, formgebendes Element dem Sal.

Die Gestaltungsmittel und Bildkräfte sind extrem flexibel und ändern
ihre Möglichkeiten. Die Linie als Kontur ist eine Synthese innerhalb
der Wahrnehmung; in der Welt der sichtbaren Körper existiert sie
nicht, sie ist eine Abstraktion. Als sinnliche und emotionale Erscheinung
ist sie eine Bewegungsspur. Sie läuft frei in alle Richtungen und
drückt zunächst nichts aus als sich selbst. Sie gehorcht den subtilsten
seelischen Regungen in Bruchteilen von Sekunden, ändert ihren Charakter,
ihre Richtung, ihren Druck. Sie kann chaotische Energie sein
oder ein harmonischer Fluss oder eine Formabsicht. Sie ist das schnellste
Mittel, ein Ausdruck von Kraft und eine spontane, direkte Sprache.
Das Helldunkel ist keine Begleiterscheinung der Farbe, sondern von
ihr völlig unabhängig zu denken. Nachdem es von seiner Funktion
der plastischen Körpermodellierung befreit ist, bekommt es neben
dem Farbprozess eine Eigendynamik. Es ist vor der Farbe und wie
der Wechsel von Tag und Nacht eine zweipolige Gesetzmäßigkeit.
Die Farbe steht für sich und bedeutet nichts außerhalb von sich. Die
Frage ist, welche Idee, welches Ordnungsprinzip sie organisiert.
Goethe sagt: „Die Farben sind die Taten und Leiden des Lichts“. Sie
erscheint zwischen Licht und Dunkelheit und formt sie sich nach ihrer
eigenen inneren Logik. Sie ist Thema des Bildes, ihr Gefühlsgehalt
ebenso wie ihre Gesetzmäßigkeit. Sie gehorcht ihren eigenen, naturgesetzlichen
Prinzipien. Der einzelne Farbton ist nicht statisch und starr, sondern beweglich,
er changiert zwischen kühlen und wärmeren Zonen, er zeigt unablässig
Unterschiede. Farbe verhält sich komplementär, das heißt, sie fordert
neben sich ihr Gegenteil, sie sucht ihre Ergänzung durch ihren Gegensatz.

Dieser Prozess der Trennung, in der Kunst der Moderne als Befreiung,
Emanzipation und Autonomie der bildnerischen Mittel bezeichnet, ist
als Avantgarde-Strategie bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts beendet
gewesen. Wenn eine solche Sichtweise jedoch aus den historisch
gewordenen Formen herausgelöst werden kann – und das sollte sie,
denn es handelt sich hierbei um eine universelle, zeitlose, hermetische
Methode –, dann liegt in der Separation der drei Prinzipien und den
darauf folgenden Schritten ein weiterführender Weg der Erkenntnis
und Selbstverwirklichung.

In der Operation der Sublimation wird, nachdem die Prinzipien voneinander
geschieden sind, das Subtile aus dem Grobstofflichen gelöst
und erhöht. In den Hitzeprozessen, die das geistige Feuer des Sulphur
im Seelenleben bewirkt, vollzieht sich eine Klärung und Reinigung,
eine Seelenverwandlung. Der Merkur wird gesteigert. Der alchemistische
Satz: „Scheide das Feine vom Groben“ bedeutet die Lösung des
Bewusstseins von den Instinkten und Lebensantrieben des biologischen
Körpers. Durch die Befreiung der Seelenkräfte entwickelt sich
eine neue Intuitionsfähigkeit. Die Klärung der unbewussten Emotionen,
die im Gestaltungsvorgang und an den Stoffen gebunden sind,
die Reinigung des Denkens, Fühlens und Wollens von egoistischen
Instinkten lässt eine weitere Bewusstheit entstehen. Auf dieser Stufe
wird die Wahrnehmung und Anwendung des Materials emporgehoben,
gereinigt und verfeinert, das Subtile, das Fluidum, wird aus den
materiellen Substanzen befreit. Es ist eine Abstraktion: das Abziehen
des Intelligiblen – des übersinnlichen Begriffs – von der Naturform.
Das Immaterielle kommt zunehmend ins Blickfeld.

Die Linie kann Merkur- und Sulphur-Charakter bekommen, wenn sie
frei und rhythmisch ein Ausdruck von Energie wird. Die expressive
Linie als Gestik und Kalligraphie, jenseits von Abbild und Nachahmung,
wird vor dem Hintergrund Zen-buddhistischer Philosophie zur
geistigen Übung bzw. Meditation. In ihr manifestiert sich Intuition. –

Das Helldunkel bekommt durch seinen Rhythmus und seinen
Gefühlsausdruck Merkur-Charakter, es erzeugt eigene Klänge und
Spannungen und kann subtilste Atmosphären vermitteln. Durch seine
Kontrastwirkungen ist es form- und raumbildend. – Die Farbe, wenn
sie im Bild architektonische Funktion hat, wird zu einem Sal-Prinzip,
besonders in geometrischen Ordnungsprinzipien. Rechteckige Farbflächen
entsprechen eher einer materialistischen Denkweise, denn der
rechte Winkel ist die Struktur der irdischen Raumordnung.
Die Koagulation ist die Phase der Erdung und Formwerdung. Die
Koagulation ist also prinzipiell ein Sal-Prozess und ein Absteigen nach
dem Aufsteigen. Das Flüchtige wird fest gemacht, auf die Aggregatzustände
des Luftigen folgt durch Abkühlung eine Verfestigung. Nach
den Hitzeprozessen entsteht eine vorübergehende Materialisierung des
Subtilen, ein Formwerden auf höherer Ebene. Diese Arbeit ist eine
Konkretion, bei der das Immaterielle in der Gestaltung objektiviert
und zur Anschauung gebracht wird. Die Verstofflichung ermöglicht
weitere Bewusstwerdung. Die Koagulation hat eine Entsprechung zu
den Vorgehensweisen der so genannten „Konkreten Kunst“, in der
etwas Gedankliches visualisiert wird. Konkretion ist eine Verdichtung
aus der abstrakten Idee, sie ist Formprozess und Strukturbildung. In
dem Verlassen der klassischen Genres und in der Erweiterung der
künstlerischen Praxis in die Alltagswirklichkeit hinein ist ebenfalls ein
Materieprozess zu erkennen, auch deswegen, weil es die Negation des
metaphysischen Kunstbegriffs bedeutet. Es ist ein Absteigen von den
hehren Höhen der Kunst in die profane Wirklichkeit und dadurch,
von der Intention her, eine Zunahme an Realismus und Aufklärung.
Diese Logik der Säkularisierung als Kernprinzip der Moderne ist eine
Form von Koagulation. Kunst betritt die reale Welt und bringt ihr
Gestaltungspotential zum Einsatz, denn nur in der Kunst geschieht
das Wunder der Verwandlung.

Die Calcination ist die Veraschung. Im Feuerprozess verbrennen die
auf das rein Materielle und Sinnliche gerichteten Seelenanteile. In der
Intensität des Lebens, mit seiner Lust und den Leidenschaften, in der
Unstillbarkeit des Lebenshungers wird der Mensch durch sein Schicksal
getrieben. In der Welt der Gegensätze erfährt er, dass niemals ein
Zustand stabil bleibt, sondern ständig in sein Gegenteil wechselt.
Nichts hat Bestand. Im leidenschaftlichen, feurigen Begehren verliert
sich der Mensch an etwas Äußerlichem, das weder er selbst noch
überhaupt real ist. Mit dem dionysischen Feuer im Blut und in der
Dynamik der polaren Kräfte verbrennt alles, was seinem wahren
Wesen nicht entspricht, das heißt alles, was zur Materie gehört.
Die Phase des Absterbens der alten Form ist dann die Mortifikation
oder auch Putrefaktion. Ohne die Idee des Einen verlieren die Teile
ihren Bezug zu ihrem Zentrum, der Organismus zerfällt. Durch die
Erfahrungen von Scheitern, Niederlage und Zusammenbruch in der
polaren Dynamik der Natur wird ein überlebter, falsch gewordener
Zustand beendet. Eine Konstruktion stürzt ein und das Chaos breitet
sich aus, aus Ordnung entsteht Unordnung. Mortifikation ist ein
Strukturbruch, der mit gewohnten, gängigen Mitteln nicht überwunden
werden kann und einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel
erfordert. Im künstlerischen Prozess ermöglicht das Scheitern, wenn
der Wille des Egos kapituliert, Öffnungen für die Impulse aus dem
Objektiven. Mortifikation ist die Sterbephase und die Verwesung der
Materie als Bedingung für die Geburt einer neuen Form.

Das Mysterium des hermetischen Weges ist die Perspektive einer
neuen Geburt nach dem Absterben der alten Struktur, und so ist das
Ziel des alchemistischen Prozesses erreicht in der Konjunktion. Die
menschliche Seele hat einen Entwicklungsgrad erreicht, durch den sie
empfänglich wird für den universellen Geist. Der suchende Mensch
findet die Einheit der Gegensätze in einem wahrhaft erweiterten Bewusstsein.
Auf dieser höchsten Stufe der Transformation ist die neue
Form geboren. Der wiedergeborene Mensch verlässt die platonische
Höhle der Illusionen und steigt auf in das Reich der ewigen Ideen. Er
ist in der Gnosis. Die Materie und die Welt der Gegensätze sind überwunden,
die zerstörerischen Antagonismen der Natur wandeln sich zu
harmonischen Wechselwirkungen der Pole. Die Synthese von Sal,
Sulphur, Merkur, die ursprüngliche Einheit von Körper, Geist und
Seele, ist, nach dem Weg durch die Dualität, nach der Erfahrung der
Zerrissenheit in der materiellen Welt, wieder hergestellt. In der alten
Sprache der Rosenkreuzer und Alchemisten wird dies die „Chymische
Hochzeit“ genannt. Durch Intuitionen aus dem absoluten Geist, in
Einheit mit der universellen Intelligenz, ist der Mensch nun in der
Lage, harmonisch mit der Natur zu arbeiten. Der transformierte
Mensch ist das größte Kunstwerk.

Transformation
Der Kapitalismus ist zu einer Weltanschauung mit totalitärem
Charakter geworden. Tiefgreifende Krisen haben die im Materialismus
versunkenen Gesellschaften erfasst, Krisen, die nur durch eine
Bewußtseinsreform im kulturellen, geistigen Überbau überwunden
werden können. Doch das kulturelle Geschehen hat gegenwärtig in
weiten Bereichen dazu nicht die Voraussetzungen, da es erstarrt ist in
der materialistischen Weltanschauung und unter der Dominanz des
wirtschaftlichen Effizienzdenkens. Es besteht eine erhebliche Diskrepanz
zwischen der aufgeblähten Kulturindustrie und ihrer medialen Präsenz
einerseits und ihrer tatsächlichen Bedeutung für das gesellschaftliche
Geschehen. Die kommerzielle Unterwerfung der Kultur, die heute
verbreitete vollständige Identifikation mit dem marktgerechten
Denken, dahingehend, dass angeblich erst durch ökonomische,
quantifizierende Sichtweisen die Dinge Wirklichkeit bekämen, ist eine
zerstörerische Fehlentwicklung. Dabei hat die komplexe moderne
Gesellschaft die Tendenz zu einer Ausdifferenzierung und zur jeweiligen
Autonomie der drei gesellschaftlichen Sphären der Ökonomie, der
Politik und der Kultur. In der gegenwärtigenWirtschaftskultur werden
jedoch alle Teilsysteme durch die Macht des Ökonomischen an einer
wirklichen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gehindert. Daher
ist es die dringlichste Aufgabe, eine freie kulturelle Sphäre zu schaffen,
einen Raum der geistigen Unabhängigkeit. Kultur ist kein Wirtschaftsfaktor,
sondern das Ergebnis von Sublimation: ein Raum der Steigerung,
der Verfeinerung und der Ablösung vom Zweckdenken; nur in
diesem freien Raum können sich ein neues Denken und gesellschaftliche
Reformen vorbereiten. Die Bedingung für Transformation ist
eine umfassende Öffnung, damit das verdrängte Ganzheitsdenken,
das „verworfene Wissen“, Eingang finden kann in die Diskurse.
2006 veröffentlichte die Berliner Kulturpolitikerin und Kuratorin
Adrienne Goehler ihr Buch „Verflüssigungen – Wege und Umwege
vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“, in dem sie, vor dem Hintergrund
desWandels der Ökonomien und Arbeitswelten, die Grundzüge
einer Kulturgesellschaft entwirft. An Politik und Wirtschaft stellt sie
die Forderung, den Künsten und Wissenschaften bei der Lösung
gesellschaftlicher Probleme und für zukünftige Entwicklungen generell
mehr Bedeutung beizumessen. Die Potentiale der Kunst für gesellschaftliche
Veränderungen müssten genutzt werden, um Denkblockaden
zu überwinden, um neue Denk- und Handlungsmodelle zu entwickeln.
Sie verkennt allerdings, dass es innerhalb eines materialistisch-
säkularen Weltbildes – und eines dementsprechenden Kulturbegriffs
– keine wirkliche Verflüssigung der Verhältnisse geben kann,
jedenfalls nicht in dem Maße, wie es nötig sein wird. Denn die Suche nach
neuen Ideen bedeutet primär: die Verflüssigung der materialistischen
Denkweisen; das zentrale Arbeitsfeld der Kunst ist also die
Herauslösung des Denkens aus den Ideologien des Materialismus und
anderer überlebter Mentalitäten. Die Metapher der Verflüssigung, die
Adrienne Goehler benutzt und die wohl zuerst von dem Soziologen
Zygmunt Baumann eingeführt wurde zur Charakterisierung der heutigen
„Flüchtigen Moderne“ (2003), weist auf eine Phase hin, die in
der Logik der Alchemie der Solution entspricht. Doch auf die
Auflösung erstarrter Verhältnisse, auf die postmoderne Deregulierung
überlebter Strukturen, muss die wirkliche Kunst der Verwandlung
folgen.

Das zentrale Thema des 21. Jahrhunderts wird die Neuentdeckung
der Natur sein. Die Bewältigung ökologischer Krisen wird in den
westlichen Gesellschaften bis jetzt lediglich ökonomisch und technologisch
gedacht. Doch erfordert die einseitig instrumentelle Rationalität
der westlichen Kultur angesichts des Klimawandels ein prinzipielles
Umdenken. Für eine andere Umgehensweise mit Natur sind Ganzheitsmodelle
notwendig. Die Verbindung von Ökologie und Kunst bzw. Ästhetik,
wie sie der zeitgenössische Naturphilosoph Gernot Böhme in seiner Schrift
„Die Natur vor uns – Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht“ (Böhme 2004)
untersucht hat, ist ein Thema, das künstlerisch und philosophisch langfristig
zu bearbeiten sein wird. Gernot Böhme behauptet in seinem Buch, dass es
ein Irrtum sei zu glauben, die Natur liege hinter uns, durch Naturwissenschaft und
Technologie könne sie als bezwungen oder befriedet angesehen werden.
Das Gegenteil treffe zu, dass nämlich die Natur angesichts ihrer
Zerstörung als kulturelles und speziell künstlerisches Arbeitsfeld noch
vor uns liege und der Mensch seit der Moderne für den Fortgang der
Evolution verantwortlich sei. Nicht Naturbeherrschung, sondern
Naturtransformation müsse zur zukünftigen Zielorientierung werden,
im Rahmen derer der Kunst neben Wissenschaft und Technik eine
wesentliche Bedeutung zukomme. Für diese Aufgabe sei in den verschiedenen
Formen historischen kulturellen Wissens nach Anknüpfungsmöglichkeiten
für einen Orientierungswechsel zu suchen.

Das Ganzheitsdenken der Frühromantik und der Naturphilosophie in
Deutschland ist eine Weltanschauung, die historisch auf der Verliererseite
steht, jedoch wiederentdeckt werden sollte, um das darin liegende
Potential für die Zukunft zu aktivieren. Anknüpfend an die naturphilosophischen
Denkformen von Schelling, Goethe, Rudolph Steiner,
Joseph Beuys und anderen, kann die Suche nach zukunftsweisenden
ökologischen Konzepten vertieft werden. Ganzheitlichkeit lässt sich
verschieden denken.

Man kann Hermetismus und Alchemie als historische Phänomene
sehen, als einen Pool, aus dem man sich, die Inhalte unbekümmert
postmodern gegen den Strich lesend, subjektivistisch bedienen kann.
Doch sie sind mehr, sie sind integrative Formen der Erkenntnis und
Methoden der Vervollkommnung des Menschen. Die Einsicht in die
immaterielle Seite, in die seelisch-geistigen Dimensionen des Seins, ist
auf allen Arbeitsfeldern die notwendige Voraussetzung für eine Überwindung
heutiger Krisen. Dann kann Kunst auch zu einer Form der Gesundheits-
förderung werden. Kultur und Gesundheit sind nicht mehr als getrennte
Bereiche zu sehen. Gesundheit ist ganzheitlich zu verstehen, sie bedeutet
auch geistige Gesundheit und Authentizität, soziale Integration ebenso
wie die Identifikation mit kulturellen und spirituellen Werten. Kunst
in diesem Sinne ist die Gesellschaftstherapie der Zukunft.

Der Mensch ist ein Mikrokosmos, aus Materie und Geist gemischt;
denWiderspruch zwischen Physis und Metaphysik gilt es auszuhalten.
Auf der Grundlage eines postsäkularen, neuplatonischen Kunstbegriffs
ist künstlerische Praxis ein Weg des Bewusstseinswandels, ein
spielerisches Handeln und Üben mit naturanalogen Prinzipien. Der
zentrale Aspekt dabei ist, der Selbstbewegung natürlicher Strukturen
zu folgen. Indem der Künstler die Idee der Weltseele an die erste Stelle
setzt, lebendige Zusammenhänge organologisch und nicht funktionalistisch
begreift und trotz aller Zerrissenheiten und Widersprüche die
Einheit in der Tiefe seiner Seele sucht, ist er auf eine neue Art handlungsfähig.
Mit einem erweiterten Wissen und einem neuen Verständnis von Kreativität
können die objektiven organologischen Gesetzmäßigkeiten
in den jeweiligen Arbeitsfeldern und in unserem Leben insgesamt zum
Tragen kommen. Künstlerische Arbeitsweisen und Forschungsergebnisse
werden, wenn sie an den Ideen des Universellen und an Ganzheitsstrukturen
orientiert sind, zum Paradigma für transformatorische Methoden.
Ein spiritueller Integrationsprozess, der den fruchtbaren Dialog zwischen
Kunst, Wissenschaft und Religion umfasst, zielt auf die Einheit aller
Lebensbereiche, stellt Beziehungen her zwischen den sich bislang getrennt
entwickelnden Wissensformen der verschiedenen Teilsysteme.
Kunst wird vor diesem Hintergrund zu einer alle Lebensbereiche
umfassenden Gestaltungskraft. Und jeder Mensch arbeitet an seiner
Alchemie der Selbstwerdung.

 


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