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„Mensch und Erde“ – Ludwig Klages Rede auf dem Hohen Meißner und ein Rückgriff auf Schiller -

Michael Evers, 19. Juni 2014



1. Einleitung

2. Fortschrittskritik bei Ludwig Klages

2.1 Vernichtung des Lebens

2.2 Anthropozentrismus

2.3 Der Mensch zwischen Emanzipation und Naturverlust

2.4 Hoffnung auf eine Lebenswende

2.4.1 Historische Formen des „Geistes“


3. Schillers Ästhetik

3.1 Der Antagonismus von Vernunft und Sinnlichkeit

3.2 Kritik der Aufklärung

3.3 Dualismus als Instrument der Kultur

3.4 Die Doppelnatur des Subjekts bei Schiller

3.5 Der mittlere Zustand

3.5.1 Natur und Kunst

4. Zusammenfassung und Ausblick



1. Einleitung


Der Hohe Meißner ist ein Berg im Norden Hessens und seit dem Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 das Symbol für den Naturschutz in Deutschland. Anlässlich dieses Ereignisses, ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges, hat der Philosoph Ludwig Klages (1872-1956) in seiner Rede „Mensch und Erde“1 dem damaligen Lebensgefühl vieler Menschen und vor allem der Jugend Ausdruck gegeben. Er beschreibt die Zerstörungen von Natur und Kultur durch den Kapitalismus und die fortschreitende Technisierung. Auf eine sehr eindringliche und radikale Weise analysiert er, einhundert Jahre nach der Romantik in Deutschland, den Naturverlust in der Moderne und hofft für die Zukunft auf einen kulturellen Wandel.

Dabei entsteht die Frage, welche Relevanz seine Rede für die heutige Situation hat. Sind seine Analysen und Beurteilungen heute, in einer Situation, in der Technisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche einschließlich der Natur selbstverständlich und zu einem irreversiblen Bestandteil der globalen Zivilisation geworden sind, noch anschlussfähig? Im 21. Jahrhundert hat sich die mentale und emotionale Situation grundlegend geändert, die Menschen scheinen sich dem Naturverlust pragmatisch anzupassen. 2013, zum Jubiläum gewissermaßen, ist vor dem Hintergrund der Energiewende in Deutschland die Industrialisierung der nordhessischen Landschaft durch die Bebauung mit Windkraftanlagen geplant, ohne dass dabei eine nennenswerte Umweltdebatte geführt wird. Stattdessen wird demokratisch mit „Windkraft für alle“ geworben.2

Klages sieht im Anthropozentrismus, also in der Zentrumsstellung des Menschen, die Ursache für das Naturproblem. Als treibende Kraft sieht er den menschlichen „Geist“, der sich mit Naturwissenschaft und kapitalistischer Wirtschaftsweise von der Natur emanzipiert, doch dabei, sich gegen die „Seele“ wendend, das Leben vernichtet.

Meine Untersuchung ist als ein Begegnungsfeld zweier Denker konzipiert, deren Ideen im Vergleich ich für die heutige Situation für relevant halte: der Rede von Ludwig Klages soll die ästhetische Theorie Friedrich Schillers3 gegenüber gestellt werden. Meine These ist, dass das philosophische Konzept von Schiller die unbefriedigenden Konsequenzen von Klages Position zu kompensieren in der Lage ist. Denn nicht der Anthropozentrismus ist die Ursache des Naturproblems, sondern der Antagonismus von „Seele und Geist“, das heißt der unaufgelöste Gegensatz zwischen der Natur des Menschen - also seiner Abhängigkeit von ihr - und seiner Emanzipation von ihr. Ich werde zu zeigen versuchen, dass mit Schiller der Antagonismus zwischen „Seele und Geist“ überbrückt werden kann.

Als Erstes sollen die Grundgedanken der Rede von Ludwig Klages nachgezeichnet und näher beleuchtet werden. Klages schließt seinen Vortrag mit einem Rückgriff auf die Epoche der Romantik, wo er Alternativen des Denkens sieht. In Anlehnung daran werde ich in einem zweiten Schritt Schillers philosophisches Konzept des Spieltriebs - das aus eben jener Phase der Romantik stammt - vorstellen. Schiller hat als einer der ersten Kulturkritiker der Moderne die Ambivalenz der Aufklärung analysiert. Er entwickelt ein Programm, das zwar anthropozentrisch ist, in dem jedoch eine nicht zweck- und herrschaftsorientierte Umgehensweise mit Natur aufscheint. Ich möchte zeigen, dass mit seinem Konzept des Spieltriebs die Integration des Subjekts möglich wird. Schiller hat in seiner Ästhetik die Zweckfreiheit der Kunst philosophisch begründet und damit eine Tür geöffnet für die Überwindung des Geist-Seele-Dualismus in dem, was er als das „ästhetische Leben“ bezeichnet.


2. Fortschrittskritik bei Ludwig Klages


Klages Fundamentalkritik richtet sich zu Beginn, und schon damit ist er ein Vorläufer aktueller Diskussionen, gegen den Fortschrittsgedanken. Er attackiert das naive Überlegenheitsgefühl, von dem die Menschen der Moderne, durch ihre Errungen- schaften der Naturwissenschaften und der Technik, erfasst seien. Er sieht in dieser Bewusstseinsverfassung eine Selbsttäuschung, die er entlarven will: „Nicht für überzeugte Bekenner dieses Glaubens, die mit ihm sterben werden, wohl aber für ein jüngeres Geschlecht, das noch fragt, wollen wir versuchen, wenigstens an einer Stelle den Schleier zu lüften und die bedrohliche Selbsttäuschung aufzudecken, die er verhüllt.“4

Als ersten Maßstab, von dem her er seine Kritik aufbaut, setzt er ein Wertebewusstsein in Anlehnung an historische Vorbilder: die Kultur der Antike, das Weltbild des Mittelalters und das idealistische Menschenbild Goethes. Das hier herrschende Verhältnis des Menschen zur Natur sei auf Ausgleich und Gleichgewicht statt auf materielle Werte gerichtet. Dagegen sei die Moderne auf Naturbeherrschung, Ausbeutung und Machtzuwachs fixiert, eine Mentalität, die er generell mit Werteverlust verbindet bzw. die einen solchen zwangsläufig nach sich ziehe. Da der Kapitalismus allein nach quantifizierenden Prinzipien funktioniere, würden alle nicht in Mengenverhältnisse fassbaren Aspekte des Lebens von der ökonomischen Logik ignoriert. Der moderne „Fortschrittler“ habe eine lediglich auf Erfolge reduzierte Perspektive. Als weiteren Maßstab nimmt Klages eine Natur im Ursprungszustand an, eine solche, die von selbst da sei, von menschlichen Eingriffen mehr oder weniger unberührt. In ihr wirkten Symbiose und Ausgleich statt des schrankenlosen Kampfes ums Dasein; in der darwinistischen Evolutionstheorie sieht er lediglich die anthropomorphe Projektion des mechanistisch-ökonomischen Denkens. Mit eindringlichen Bildern beschreibt er die Folgen des menschlichen Eingriffs, er sieht einen Vernichtungskrieg gegen die Natur und zählt die weltweiten Verwüstungen auf. Er beklagt den Verlust an Vielfalt, Phänomene, die sich zu seiner Zeit bereits deutlich abzeichneten. Er resümiert: „Wo aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, deren er sich rühmt, hat er ringsumher Mord gesät und Grauen des Todes.“5


2.1 Vernichtung des Lebens


Die Frage nach einem materialistischen oder metaphysischen Naturbegriff lässt er erkenntnistheoretisch offen. Das Ganze der Natur teile sich dem unmittelbaren Erleben mit: “(…) den soviel steht fest, dass Gelände, Wolkenspiel, Gewässer, Pflanzenhülle und Geschäftigkeit der Tiere aus jeder Landschaft ein tieferregendes Ganze wirken, welches das Einzellebendige wie in einer Arche umfängt, es einverwebend dem großen Geschehen des Alls.“6 Er stellt hier dem auf Ausbeutung gerichteten Fortschrittsdenken ein ganzheitliches Naturbild entgegen, in dem die natürlichen Einzeldinge kosmisch eingebunden seien, ein Bild, das von ihm nicht rational begründet wird, weil es durch empfindungsmäßige Qualitäten in seiner Ganzheit erlebbar sei. Im Hintergrund dieses Gedankens schwebt die Idee der Ganzheit einer sich selbst regulierenden Natur. Er geht von einer der technisch-ökonomischen Logik übergeordneten Ordnung aus und weist damit voraus auf den Begriff des Ökosystems.

In bildhafter, poetisch gesteigerter Sprache beschreibt er den Anmutungscharakter, die „Seele“ intakter Landschaften und die Integration vormoderner Besiedelungen und Architekturen in diese, um daraufhin den Verlust auch dieser organischen Zusammen- hänge von Natur und Kultur durch Technisierung und Ökonomisierung mit drastischen Bildern darzustellen.

Hinter all den beschriebenen Naturzerstörungen und der Ausbeutungen anderer Völker durch Kolonialismus und kapitalistische Logik macht er ein antibiotisches, auf Vernichtung des Lebens gerichtetes Prinzip aus. „Unter dem Vorwand von ´Nutzen`, ´wirtschaftlicher Entwicklung`, ´Kultur` geht er (der Fortschritt; M.E.) in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus.“7 Gegen die materialistische Weltanschauung, die ihre mechanischen und quantifizierenden Methoden auf alle Bereiche des Lebendigen anwende und damit scheitere: “Noch hat die Retorte keine lebendige Zelle hervor- gebracht,…“, stellt er den Begriff des „Lebens“: „Leben ist beständiger Wieder- erneuerung fähige Form; löschen wir diese aus, indem wir diese Art vertilgen, so ist die Erde um alle Zeiten um sie verarmt, unbeschadet der sogenannten Erhaltung der Kräfte.“8 Im Hintergrund dieses Gedankens der zur beständigen Wiedererneuerung fähigen, lebendigen Form steht die auf Aristoteles zurückgehende natur- philosophische Vorstellung der Entelechie.9


2.2 Anthropozentrismus


Klages verneint das Ideal der Aufklärung, also die Erzählung der Kulturgeschichte als eines Fortschritts durch den modernen „reinen Verstand.“ Die treibende Kraft hinter dem wissenschaftlichen Fortschritt sieht er im Kapitalismus mit seinem rein auf Mengenverhältnisse gerichteten Prinzip. Auch die messenden Verfahren in der Wissenschaft begründeten sich durch ökonomisches Denken. Er sieht im Christentum die mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung für die rein quantifizierende, Werte verneinende Wissenschaft und für die Ausbeutung der Natur. Der Grund sei die Erhöhung des Menschen über die Natur, ihre Unterwerfung und Degradierung zu einer rein dienenden Funktion des Ichs. Dadurch sei der Zusammenhang aufgehoben zwischen dem Menschen und der „Seele“ der Erde. Die Entfernung der technischen Moderne von dem Gleichgewichtszustand der Natur sei verantwortlich für den Verlust derselben. Auch für die sozialen Spannungen und Zerrüttungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens macht er das physikalisch-mechanistische Paradigma, das auf alle Lebensaspekte angewendet werde, verantwortlich. Der moderne Mensch richte sich gegen das sich selbst erhaltende System der Natur, mit seinem rationalen Geist löse er sich aus der natürlichen Eingebundenheit, wobei Klages die Rationalität als ein Prinzip beurteilt, das eine Natur- und Weltfremdheit bewirke: „In seinen blutigen Streichen gegen sämtliche Mitgeschöpfe vollendet er nur, was er zuvor sich selbst getan: das Verwobensein in die bildernde Vielgestalt und unerschöpfliche Fülle des Lebens hinzuopfern für das heimatlose Darüberstehen einer weltabscheidenden Geistigkeit.“10

Eine Mentalität, in der die Natur ihren Wert lediglich im Bezug auf den Menschen habe und dieser rücksichtslos seine Zentrumsstellung behauptet, ist aus Klages Sicht ein Irrweg. Den Anthropozentrismus und den an das Ich geknüpften Rationalisierungsprozeß identifiziert er als den Kern des Problems. Der menschliche Geist ist ihm das antibiotische Prinzip schlechthin. Der moderne Mensch stelle die Ratio vor die Sinnenwelt, unter dem Primat der Ratio habe er sich losgerissen von der Sinnenwelt. Klages diagnostiziert einen Riss zwischen Mensch und Erde, Mensch und Kosmos. Sämtliche Traditionen und Kulturformen wie etwa Volkslieder und Alltagsrituale, die in früheren Epochen die Integration in eine natürliche Ordnung gewährleisteten, seien verloren. In einigen Aspekten mag er sich geirrt haben, wenn er etwa kulturelle Innovationen wie das Klavier auf die Seite der minderwertigen „Früchte des Fortschritts“ einordnet. Doch ist dadurch die Logik seiner Argumentation nicht in Frage gestellt, wenn er sagt: „Kein Zweifel, wir stehen im Zeitalter des Untergangs der Seele.“11


2.3 Der Mensch zwischen Emanzipation und Naturverlust


Nach dieser radikalen Wissenschafts-, Technik- und Kapitalismuskritik folgt eine weitere, tiefere Sinnebene. Das europäische Christentum, das er, wie gesagt, als eine mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung für den Naturverlust sieht, sei als historische Stufe der Endpunkt einer viel älteren Ursache. Die sich entwickelnde menschliche Rationalität – und hier folgt Klages doch der Logik der Aufklärung - habe menschheitsgeschichtlich die Aufgabe, den Mythos zu überwinden und eine neue Ordnung zu etablieren. Er illustriert diesen Gedanken mit einem Bild der Mythologie: die Sonnenhelden hätten über die chtonischen Schicksalsmächte den Sieg errungen, wobei diese in die Unterwelt verdrängt seien. Der Sinn der Neugestaltung, also die Dominanz des Geistes über die Seele, sei die errungene Wachheit, sie löse den Menschen notwendig vom Traumbewusstsein. Rationale Erkenntnis sei eine Durchbrechung der Natur, das mythische Kreislaufdenken werde überwunden durch Stabilität und Fixierung. Hierin liege ein Bewusstwerdungsprozeß vor, der den Menschen notgedrungen abtrenne von dem unbewussten Zusammenhang mit der Natur: „Dies aber ist überall der eine und selbe Sinn jener Neugestaltung, mit der die „Geschichte“ anfängt: dass über die Seele sich erhebe der Geist, über den Traum die begreifende Wachheit, über das Leben, welches wird und vergeht, ein auf Beharrung verrichtetes Wirken.“12 Der katastrophale Zustand der Erde sei also die Folge der Notwendigkeit der menschlichen Emanzipation von der Natur. Die Abspaltung der Verstandeskräfte und des menschlichen Willens von den Mächten des Lebens und der „Seele“ sei letztendlich der Sinn der Geschichte. Der rationale Wille richte sich jedoch gegen die Erde und der Prozess der Aufklärung sei somit ein Zerstörungsgang zum Nichts. Denn jener sei als eine ausserweltliche Macht in die Sphäre des Lebens eingebrochen. Rationalität, als Prinzip der Aufklärung, wende sich zwar gegen Illusion und Täuschung, führe aber in seiner Einseitigkeit zum Nihilismus: „Wir sollten einsehen, dass es zum Wesen des `rationalen´ Willens gehört, den `Schleier der Maya´ in Fetzen zu reißen, und dass eine Menschheit, die sich solchem Willen anheimgegeben, in blinder Wut die eigene Mutter, die Erde, verheeren muss, bis alles Leben und schließlich sie selbst dem Nichts überliefert ist.“ Und: „Keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde.“13


2.4 Hoffnung auf eine Lebenswende


Am vorläufigen Endpunkt dieses Emanzipationsprozesses angekommen, spricht Klages der rationalistischen Kultur jede Möglichkeit einer Korrektur ab. Dabei ist seine Intention die Aufklärung über diese Zusammenhänge, einen Lösungsvorschlag kann er nicht geben. Zum Ende seiner Rede appelliert er indirekt an eine außermenschliche, offenbar transzendente Dimension, die allein eine Korrektur herbeiführen könne: “Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen der Menschen liegt.“14

In diesem Dilemma stellt er mehrfach den Bezug her zu einer vergangenen Kultur, die für ihn offenbar Maßstabcharakter hat und die er für prädestiniert hält, Lösungsideen anzubieten. Er verweist mit seiner Rückbesinnung auf die Ideen und Erneuerungs- versuche der hundert Jahre zuvor gescheiterten Romantik und setzt für einen Mentalitätswandel auf Lösungsansätze, die von dieser Epoche uneingelöst hinterlassen worden seien. “Ihre Hoffnungen trogen, der Sturm ist verrauscht, ihr Wissen verschüttet…“15 Mit einem Text des Dichters Joseph von Eichendorffs schließt er ab. Die poetischen, mythisch-transzendenten Bilder des Dichters transportieren offenbar ein uneingelöstes Erbe oder ein verworfenes Wissen, in dem hier die Qualitäten aufscheinen, die mit „Seele“ konnotiert sind und die das Potential enthalten, das für ein eventuelles Umdenken notwendig sei. Eichendorffs Text, in dem, kurz vor Beginn der industriellen Revolution in Deutschland, in einer noch unentschiedenen historischen Situation, ein apokalyptisches Szenario des Kampfes zwischen Altem und Neuem entworfen wird, beschwört Möglichkeiten einer positiven Entwicklung. Eichendorff endet mit der Hoffnung auf einen Neuanfang durch einen religiösen Menschheitsimpuls.


2.4.1 Historische Formen des „Geistes“


Genauer betrachtet, richtet sich Klages Kritik mit seiner radikalen Ablehnung des Anthropozentrismus gegen das menschliche Ich als Höhepunkt des Bewusstwerdungs- prozesses: „…und (der Mensch; M.E.) bringt es mit einem geschwätzigen sogenannten Monismus fertig, das billionenfähige Leben aller Gestirne umzufälschen und herabzuwerten zum bloßen Sockel des menschlichen Ichs.“16 Dem Menschen, als Gipfel der Evolution gesehen, scheint in seiner Egozentrik etwas innezuwohnen, das ihn in den Gegensatz zur Natur bringen lässt. Für Klages ist es besonders das Christentum als eine Religion, die den Menschen aus der Ordnung der Natur herausstößt: „ (…)weil er besessen ist von einer vampirischen Macht, die in den ´Gesang der Sphären` als ein schneidender Mißton fuhr.“17 Das christliche Ich nimmt eine Zentrumsposition in der Natur ein. Es wird scheinbar in einen vergöttlichten Status versetzt, da es in der Nachfolge Christi dazu berufen ist, durch eine geistige Wiedergeburt die Natur zu überwinden. Das zentrale Motiv des Christentums, nämlich der Tod des Leibes am Kreuz, bedeutet den Tod der Natur und somit die Überwindung der Welt der Vielfalt und des Sinnlichen.18 Diese Logik hat, durch den Glauben an und die Fixierung auf eine aussernatürliche, geistige Macht, die Ablösung der christlich-europäischen Kultur von den naturgemäßen Lebenszusammenhängen und die Bewusstwerdung des Individuums zum autonomen Ich vorangetrieben.

Die christliche Denkfigur hat eine Entsprechung zu der anderen zentralen geistigen Tradition Europas, dem Platonismus. Auch hier ist der sinnliche Zugang zur Welt untergeordnet, da er im Schein verharrt, während die Abstraktion, also die den sinnlichen Formen gemeinsame Idee, die höhere Erkenntnisstufe darstellt. Die Erkenntnis der Geometrie als einer zeitlosen Struktur, die den vorüberziehenden Phänomenen zu Grunde liegt, beansprucht, die höhere Stufe der Wahrheit zu sein.19 In der Zurückführung der Naturerscheinungen auf geometrische bzw. mathematische Formen liegt der Ursprung der europäischen rationalen Wissenschaft. Die platonische Ideenlehre wurde in der europäischen Geistesgeschichte in einer Weise tradiert, die zum neuplatonischen Rationalismus führte, was im Folgenden kurz skizziert werden soll.

Es ist das moderne Ich mit seinem Verstandesvermögen, das Klages im Visier hat. Dieses denkt er in einer Weise, die besonders durch den Neuplatonismus des französischen Philosophen Rene Descartes geprägt ist. Descartes ging von einem die Wirklichkeit strukturierenden Dualismus aus. Auf der einen Seite dachte er das menschliche Subjekt als unkörperlichen Geist, als reine denkende Substanz20, dem alle Naturobjekte außerhalb von sich nur unbeseelte Ausdehnungen im Raum (res extensa) seien einschließlich des eigenen Körpers. In dieser starken Position des Subjekts zeigt sich ein Anthropozentrismus, dem nur der messende, rationale, auf Geometrie reduzierte Zugriff auf die Körper der Außenwelt Erkenntniswert hat. Sinnliche Wahrnehmungen werden dagegen als undeutlich abgewertet. In seinen Meditationen über die Grundlagen der Philosophie sagt Descartes: „Es bleibt noch übrig zu untersuchen, ob materielle Dinge existieren. Nun weiß ich zwar bereits soviel, dass sie, soweit sie Gegenstand der reinen Mathematik sind, existieren können, da ich sie ja klar und deutlich erkenne.“ Gefühlswahrnehmungen hingegen seien weniger verlässlich: “Folglich existieren die körperlichen Dinge. Indessen existieren sie vielleicht nicht alle genauso, wie ich sie mit den Sinnen wahrnehme, da ja diese sinnliche Wahrnehmung vielfach recht dunkel und verworren ist; aber wenigstens all das ist in ihnen wirklich vorhanden, was ich klar und deutlich denke, d. h. alles das, ganz allgemein betrachtet, was zum Inbegriffe eines Gegenstandes der reinen Mathematik gehört.“21

Das sich daraus entwickelnde neuzeitliche naturwissenschaftliche Denken hat, durch die einseitige Favorisierung der Mathematik als rationalem Struktur- und Erkenntnisgrund der Natur, die ursprüngliche platonische Bedeutung der Seele und des Eros für den Erkenntnisprozeß negiert. Im Dialog Das Gastmahl lässt Platon von einer Frau (Diotima) darlegen, wie das Denken vom Eros angetrieben wird. Vom Anblick des Schönen im Sinnlichen entzündet, steigert sich das Bewußtsein von der natürlichen Erscheinung zur Idee.22

Es wird deutlich, dass im Hintergrund des Geistbegriffs von Ludwig Klages vorrangig der platonische Rationalismus von Descartes steht, in Verbindung mit einer Lesart des Christentums, die weniger den Erhalt der Schöpfung, sondern mehr die Geringschätzung der Natur betont - ein Vorstellungszusammenhang also, in dem das moderne Ich sich als rationales Zentrum der Natur wähnt und alles um sich herum zum Objekt seiner Berechnung und Begierde degradiert. Damit reduziert Klages den Geistbegriff auf die Bedeutungsschichten, die mit der Emanzipation des Subjekts, mit Mathematisierbarkeit der Natur, mit Zweckdenken und Herrschaftsanspruch verknüpft sind. Er sieht den „Geist“ als Schlächter des Lebens, als Abstraktion, die Sinnlichkeit, Empfindungsfähigkeit und alles Seelische vernichtet. Rettung sieht er nur in der Befreiung der „Seele“ aus den Abstraktionen des „Geistes“. Unter dieser Bedingung jedoch der rigorosen Abweisung jeglicher Verstandes- und Vernunftskräfte, die doch der Garant sind für Reflexion und Bewusstwerdung, sind den irrationalen und chaotischen Seelenkräften Tür und Tor geöffnet. In diesem Sinne ist eine solchermaßen einseitig dionysische Konzeption prädestiniert für destruktive Impulse.


3. Schillers Ästhetik


Wenn nun mit Friedrich Schillers Ästhetik, die ein knappes Jahrhundert vor der Meißner-Rede entstand, an das Bisherige angeschlossen werden soll, dann deswegen, weil Schiller darin eine mögliche Lösung für den besagten destruktiven Antagonismus anbietet. In einer Zeit, in der es zwar noch kein elektrisches Licht gab, aber die kulturellen Rahmenbedingungen für die technische Moderne – europäische Aufklärung und Beginn der modernen Naturwissenschaft - bereits gegeben waren, hat er den anthropologischen Gegensatz von Geist und Natur, Verstandeserkenntnis und Sinnlichkeit untersucht und die Theorie eines integrativen Geist-Seele-Dualismus entworfen. Seine Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen, die ebenso wie bei Klages eine radikale Kultur- und Gesellschaftskritik sind, veröffentlichte Schiller erstmalig in der zusammen mit Goethe herausgegebenen Zeitschrift „Die Horen“ (1795). Die „Briefe“ hatten durch ihr Konzept der „ästhetischen Versöhnung“ einen großen Einfluss auf die Theoretiker der Romantik und auf den Naturphilosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling,23 sodass sie ohne weiteres auch als ein Grundlagentext der Frühromantik gesehen werden können. Schillers Kunsttheorie bietet, durch die Einführung eines dritten, „ästhetischen Zustandes“ zwischen Verstand und Sinnlichkeit, das Potential eines ebenso künstlerischen wie integrativen Zugangs zur Natur.

Zu Beginn, im ersten Brief, gibt Schiller zu erkennen, dass besonders die Philosophie Kants im Hintergrund seiner Überlegungen steht, womit er auch schon die Grund- problematik charakterisiert und die für ihn als Dichter und Dramatiker offensichtlichen Schwächen der philosophischen Betrachtung einräumt: “Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muss der Verstand das Objekt des inneren Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will.“24 Hiermit ist bereits die Spannung zwischen Verstand und Gefühl deutlich gemacht, dieser Antagonismus, der Verstandeserkenntnis nur auf Kosten des sinnlichen Ganzheitserlebnisses ermöglicht.


3.1 Der Antagonismus von Verstand und Sinnlichkeit


Mit seinen philosophischen Untersuchungen reagiert er auch auf ein Zeitereignis, das nichts weniger als ein Epochenbruch war: die Französische Revolution. Der Naturstaat der Feudalgesellschaft schien erstmalig in der Geschichte abgesetzt und ersetzt durch soziale und moralische Ordnungsprinzipien, die auf den freiheitlichen Idealen der menschlichen Vernunft gründeten. Doch angesichts der totalitären Entwicklungen durch die Terrorherrschaft der Jakobiner und der Erfahrung, dass sich auch hier die mörderische Triebnatur des Menschen durchsetzte, wandte er sich ab von den Hoffnungen, die sich mit der Französischen Revolution verbanden. Den Dogmatismus der Aufklärung vor Augen, durch die Erkenntnis der Unvereinbarkeit von menschlicher Vernunft und Triebnatur, entwarf er das Gegenprogramm einer ästhetischen Revolution, die er als unabdingbare Voraussetzung sah für eine zukünftige liberale Kultur und für eine mögliche Verbesserung der menschlichen Moral.

Sinnlichkeit und Verstand, diesen ursprünglichen menschlichen Dualismus, sieht er, sowohl in den gesellschaftlichen Phänomenen seiner Zeit als auch im Individuum, reichlich aus dem Gleichgewicht geraten. Allerdings hat er, im Gegensatz zu Ludwig Klages, einen vollkommen anderen Ansatz: seine Kulturkritik richtet sich primär, vor dem Hintergrund der Terrorherrschaft in Frankreich, auf die chaotische Triebnatur des Menschen und nicht auf den Geistbegriff. „Geist“ ist bei Schiller positiv besetzt. Auf der Grundlage der Trans- zendentalphilosophie Kants sind für ihn Vernunftbegriffe und Ideen Denknotwendigkeiten, die die höchsten Einheiten unseres subjektiven Erkenntnisvermögens bilden und dem Denken Orientierung geben25. Als Vertreter der Weimarer Klassik ist seine Ästhetik ein Theorieentwurf, der, neben seiner Verwandtschaft mit der Romantik, auch in die Philosophie des Deutschen Idealismus eingeordnet wird und insofern geist- bzw. subjektorientiert ist. So gesehen scheint Schiller aus Klages Sicht auf der Feindesseite zu stehen. Doch, und das ist das Entscheidende, ist Schillers Ästhetik ein Weg zum Ausgleich der Gegensätze, ein Konzept, das Vernunft und Sinnlichkeit zusammenführen, diese duale Opposition versöhnen will. Noch an der Schwelle zur Moderne stehend, in einer Phase, die den Naturverlust durch Technologie und Kapitalismus noch nicht kannte, war ihm die Überwindung des Naturzustandes das vorrangige Ziel. Die Ablehnung des „Geistes“ im Sinne Klages findet sich bei Schiller nicht, im Gegenteil, als Kantianer sagt er: „…(der Mensch M.E) bildet sich einen Naturstand in der Idee, der ihm zwar durch keine Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung notwendig gesetzt ist, leiht sich in diesem idealistischen Stand einen Endzweck, den er in seinem wirklichen Naturzustand nicht kannte (…).26 Vernunft bzw. Idee sind für ihn die Bewusstseinsinstanz, die den Menschen über die sinnliche Natur erhöht. Insofern steht Schiller, im Ganzen gesehen, in der platonischen Tradition.

Doch er sieht auch die Einseitigkeit der europäischen Verstandeskultur und bezeichnet sie als „Barbarentum“, was im folgenden Zitat deutlich wird: „Der Mensch kann sich aber auf doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven (seines Verstandes; M.E.) zu sein.“27 Hier zeigt sich Schillers Rationalismuskritik deutlich, aber auch seine Dialektik. Unermüdlich, möchte man sagen, gehen seine Denkbewegungen in die Entgegensetzung. Das dominierende Verstandesgesetz, das einseitig die Herrschaft behauptet und Sinnlichkeit und Empfindung überspringt, erkennt er als Fehlentwicklung. Die Nähe zu der Sichtweise von Klages in diesem Punkte ist offensichtlich: „Indem der spekulative Geist im Ideenreich nach unverlierbaren Besitzungen strebte, musste er ein Fremdling in der Sinnenwelt werden und über der Form die Materie verlieren.“28 Ein weiteres Zitat soll seine Haltung verdeutlichen und, in diesem Punkt, seine Nähe zu Klages unterstreichen: „Umsonst lässt die Natur ihre reiche Mannigfaltigkeit an seinen Sinnen vorüber gehen; er sieht in ihrer herrlichen Fülle nichts, als seine Beute, in ihrer Macht und Größe nichts als seinen Feind.“29

Auf der anderen Seite entspricht Schillers hoher Vernunftbegriff jedoch weniger dem Rationalismus von Descartes, sondern beruht, angestoßen durch die Transzendental- philosophie Kants und Fichtes, auf der Erkenntnis der Freiheit des Bewusstseins und des Intelligiblen gegenüber der materiellen Außenwelt. Doch Schiller wertet diese weder ab noch verneint er sie. Nicht die Herrschaft der Vernunft, noch die freie, willkürliche Sinnlichkeit, sondern Ausgleich ist das zentrale Motiv, auf das seine Untersuchung hinzielt. „Einheit fodert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannigfaltigkeit, und von beiden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen.“30 Im Gegensatz zur Dominanz der rationalen Erkenntnis, in der sinnliche und empfindungsmäßige Erfahrungen nicht erkenntnisrelevant sind, abgewertet werden oder nur Vorstufe zur wahren Erkenntnis sind, rehabilitiert Schiller Sinneserfahrung und Empfindung als die Qualitäten, die allein Lebendigkeit gewährleisten. In ständig neuen Varianten und aus verschiedenen Blickwinkeln spielt er den Dualismus durch, um ihn schließlich in einem „mittleren Zustand“ zu überwinden.


3.2 Kritik der Aufklärung


Auch bei Schiller findet sich die radikale Gesellschaftsanalyse, die Klages Fundamentalkritik beherrscht. „Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoismus sein System gegründet (…).“31 Materialismus und Nutzendenken seien die herrschende Prinzipien der Gesellschaft: „Der Nutzen ist das Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen…“32 Das klingt nicht nur wie ein Vorgriff auf Klages Ausführungen ein Jahrhundert später, sondern ist auch nach zweihundert Jahren tagesaktuell. Und: „Die Aufklärung des Verstandes, denen sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, dass sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt.“33 Den Fortschritt durch die rationale Aufklärung sieht er also skeptisch: „Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer betrüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoß der Natur zurück – woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?“34 In einer Vielzahl von Bildern und Denkfiguren analysiert er die verschiedenen Erscheinungen der Entzweiung und Zerrissenheit des neuzeitlichen Bewusstseins. Als Maßstab setzt er, ähnlich wie Klages, ein Ursprungsideal bei den Griechen, bei denen die gegensätzlichen Seiten der menschlichen Natur noch auf eine harmonische Art verbunden gewesen seien. Doch für die Neuzeit erkennt er die Ambivalenz der Modernisierungs- schübe und des zivilisatorischen Fortschritts, die durch die europäischen Aufklärung freigesetzt wurden. Die Defizite seien die Fragmentarisierung des Lebens durch Arbeitsteilung und Spezialisierung: „Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der anderen das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte.“35


3.3 Dualismus als Instrument der Kultur


Schiller bewertet die einseitige Fixierung auf die Gesetze des Verstandes ähnlich wie Klages als Naturentfernung, allerdings nicht endgültig, sondern als Phase, die ihrerseits durch eine höhere Vernunft überwunden werden könne: „Dieses Gemälde, werden Sie mir sagen, gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünftelei von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.“36 Er beschreibt den Antagonismus der Kräfte Sinnlichkeit und Verstand, doch er sieht diese Entzweiung nicht als Agonie, nichts liegt ihm ferner als Nihilismus. Der besagte Gegensatz sei das Instrument der Kultur, und seine Perspektive dabei ist, die Ganzheit Menschen durch eine „höhere Kunst“37 wieder herzustellen. Die Verstandesentwicklung und die emotionalen Kräfte seien die bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Schiller setzt seine Hoffnungen nicht auf politische Lösungen, sondern – ähnlich wie Klages - auf eine innere Veränderung des Menschen. Mit seiner Ästhetik, die auch als ein therapeutisches Konzept gesehen werden kann – Schiller hatte Medizin studiert und einige Jahre als Regimentsarzt gearbeitet - verbindet sich die Hoffnung, dass „die Trennung in dem inneren Menschen wieder aufgehoben“38 werden könne.


3.4 Die Doppelnatur des Subjekts bei Schiller


Schiller erkennt in der Entzweiung nicht nur ein Ergebnis historischer Prozesse und gesellschaftlicher Gegebenheiten, sondern die Bedingung der menschlichen Natur generell. Er konstruiert seinen Subjektbegriff metaphysisch als Dualität von einerseits der Person als innerer Form und andererseits dem Stoff als Veränderung der Welt: „Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt“39 Er beruft sich auf die Wissenschaftslehre Fichtes, doch insgesamt wechselt er zwischen transzendentalphilosophischen, platonischen und aristotelischen Denkweisen; eine genauere Analyse seiner philosophischen Methodik würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen.40 Bei ihm steht ein zeitloses Ich mit seinen sinnlichen Wahrnehmungen, Empfindungen und Erkenntnisvermögen der Materie gegenüber, die chaotischer, permanenter Wechsel in der Zeit ist. Er definiert die zwei Vermögen Verstandestätigkeit und Sinnlichkeit, durch die die menschliche Doppelnatur geprägt ist, als Triebe. Doch Schiller fordert – aus Gründen der Vernunft - die Überwindung des Antagonismus, und zwar durch eine harmonisierende Wechselwirkung der besagten Triebe. Die innere Form - Vorstellung und denkendes Bewusstsein - solle sich veräußern, das heißt durch Tätigkeit in der Realität versinnlichen, und die sinnliche Welt solle durch die Vernunft zur inneren Form, das heißt zur bewussten Person werden. Durch diese Wechselwirkung soll der Ausgleich und folglich die Ganzheit des Menschen erreicht werden können.

Den sinnlichen Trieb bezeichnet er als Stofftrieb, den zur Erkenntnis strebenden als Formtrieb. Der Stofftrieb steht für die Materieprozesse und ist passiv, der Formtrieb ist die aktive Bewusstwerdung durch die Vernunft. Der letztere gewährleistet die Identität des Subjekts und erscheint bevorzugt, doch sagt er auch und spricht ganz im Sinne von Ludwig Klages: „(…) die Sinnlichkeit selbst muß mit siegender Kraft ihr Gebiet behaupten, und der Gewalt widerstreben, die ihr der Geist durch seine vorgreifende Tätigkeit gerne zufügen möchte.“41 Schillers Intention ist es, dem Intelligiblen die Materie als gleich- berechtigt gegenüber zu stellen.

Sein Thema ist nicht direkt die Natur im naturphilosophischen Sinne, dazu ist er zu sehr Kantianer, das heißt in der Reflexion beheimatet. Doch im folgenden Zitat, und dabei mag Goethes naturphilosophische Sichtweise im Hintergrund stehen, wendet er sich gegen die logozentrische Forschungsmethode: “Die Natur mag unsere Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie hinausstreben.“ Er spricht von der „…gewalttätigen Ursupation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie durchaus nichts zu sagen hat,…“42 und kritisiert damit eine das sinnliche Phänomen überspringende, voreilige Urteilsbildung.


3.5 Der mittlere Zustand


Schiller betont ausdrücklich die prinzipielle Unvereinbarkeit der beiden Teile des Bewusstseins. Die Entzweiung sieht auch er als eine anthropologische Konstante: „Beim ersten Anblick scheint nichts anderes mehr entgegen gesetzt zu sein, als die Tendenzen dieser beiden Triebe, indem der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt.“43 Ein dritter Grundtrieb sei schlechterdings undenkbar. Der Stofftrieb entzieht sich jeder Form, weil diese ihn einschränkt, er tendiert zur Willkür; der Formtrieb will jede Vorstellung von der Realität zu einem Gesetz verabsolutieren und diese damit beherrschen. Die Lösung wäre, die doppelte Erfahrung beider Treibe zugleich zu machen. Das Problem der Entzweiung von gesetzgebender Vernunft auf der einen und sinnlicher Freiheit auf der anderen Seite könne nicht gelöst werden, es sei denn, es wäre eine dritte Sphäre möglich, ein weiterer Trieb, der den Dualismus überbrückte. Die Einheit beider Triebe sei eine Forderung der Vernunft, weil sich erst darin der Begriff des Menschen vollende. Schillers Argumentation ist in diesem Punkt gewunden, denn einmal verneint er die Möglichkeit eines dritten Triebes, um ihn im Folgenden zu setzen. Die Vereinigung der Gegensätze - ihre „Genesis“ - könne, obwohl beide Pole bekannt seinen, tatsächlich nicht begriffen werden, die Wechselwirkung zwischen dem Endlichen und Unendlichen bleibe unerforschlich.44 Hier müsse die Vernunft aus transzendentalen Gründen die Forderung aufstellen, dass zwischen Formtrieb und Stofftrieb eine Gemeinschaft sein solle, und an dieser Stelle führt er als Denknotwendigkeit den Spieltrieb ein. Er lehnt sich also hier an Kant an, weiß, dass Einheit im ontologischen Sinne anzunehmen problematisch ist und konstruiert eine Idee aus dem subjektiven Vermögen der Vernunft. Der Spieltrieb ist im Weiteren Schillers zentraler Kunstbegriff, wodurch die Sphäre geöffnet wird, die die Wechselwirkung und Integration der Gegensätze in Aussicht stellt.

Im fünfzehnten Brief findet sich eine längere Passage, die einmal die Bedeutung zeigt, die Schiller dem „Leben“ in seinem Konzept gibt, und darüber hinaus die Synthese im Spieltrieb verdeutlicht: “Der Gegenstand des Stofftriebs, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materielle Sein, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebs, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der alle ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.“45 Im Spiel werde der Mensch vollständig und entfalte seine doppelte Natur auf einmal. Aus dem Gleichgewicht beider Triebe, des Lebens auf der einen Seite und der Form auf der anderen, gehe im Spiel die lebende Gestalt hervor. Die entgegen gesetzten Zustände würden in der Schönheit, die ebenso die Folge der mittleren Phase und Gegenstand des Spieltriebs sei, verbunden. In ihr sei der Dualismus aufgehoben. Die Schönheit „….ist also zwar eine Form, weil wir sie betrachten, zugleich ist sie Leben, weil wir sie fühlen.“46 Sie ist die Synthese von Aktivität und Passivität der Triebe.

Neben den Ideen der lebenden Gestalt und der Schönheit, die sich aus dem Spieltrieb ergeben, kommt Schiller hier auf eine weitere zentrale Kategorie, nämlich die der Freiheit. Sobald nämlich die zwei entgegen gesetzten Grundtriebe im Menschen tätig seien, verlören beide ihren Zwangscharakter, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gebe der Freiheit ihren Ursprung. Allein die mittlere Stimmung sei eine freie Stimmung, denn in diesem Modus werde der Mensch weder von seinen sinnlichen Trieben noch von rationalen und moralischen Normen „genötigt“, das heißt gegen seinen Willen gezwungen. Das Gefühl werde zum Gesetz, und das Gesetz werde Gefühl. Dabei sollen beide Pole möglichst stark sein, also kein lascher Ausgleich der Kräfte ist gemeint, keine Vermischung und keine Harmonisierung im Sinne eines Kompromisses.

Im 18. Brief räumt er noch mal Zweifel ein. Alle Reflexion und Erfahrung weisen zwar auf die Tatsache eines solchen „mittleren Zustandes“, doch sei nichts ungereimter und widersprechender als ein solcher Begriff, da der Abstand zwischen Materie und Form unendlich sei. Da sie entgegengesetzt seien, könnten sie niemals eins werden. Im Weiteren läuft die Argumentation so, dass die beiden polaren Zustände in dem Dritten gänzlich verschwinden müssten, also nichts von ihnen in dem Ganzen zurückbleiben dürfe, um Einheit zu gewährleisten. „Weil aber beide Zustände einander ewig entgegengesetzt bleiben, so sind sie nicht anders zu verbinden, als indem sie aufgehoben werden.“47 Durch die Aufhebung der Pole geht er folglich über den Dualismus hinaus. Hier bekommt seine Gedankenführung den Charakter der hegelianischen Dialektik, indem Schiller die Synthese, in der die Gegensätze aufgehoben sind, mit der Schönheit gleichsetzt.48 Der mittlere Zustand ist somit nicht nur freie Setzung und Postulat, sondern auch ein Integrationsbegriff mit logischer Konsequenz. Die Gegensätze heben sich auf in der gegenseitigen Verneinung, doch gleichermaßen vereinen sie sich in Freiheit, da sie keinen Zwang aufeinander ausüben. In der Schönheit als Folge und Gegenstand des Spiels sind die entgegen gesetzten Pole Sinnlichkeit und Verstandesgesetz in ihrer alten Form zwar nicht weiter existent, sie sind jedoch in einer gesteigerten Weise aufbewahrt. Die Mitte erscheint wie ein vorgelagerter Zustand einer schwebenden Unbestimmtheit und als Potentialität zu beiden Richtungen. In der Abwesenheit der Schranken sei, als Synthese, die Summe aller Kräfte erhalten. Die Schönheit wird als Einheit von Gefühl und Gedanke bestimmt. Er räumt allerdings ein, dass das vollkommene Gleichgewicht in der Schönheit nur Idee sei, in der Erfahrung gebe es lediglich den schwankenden Zustand der Annäherung, sodass einmal die Reflexion, dann wieder die Sinnlichkeit überwiege. Doch für Schiller ist die Idee der Einheit das eigentlich Wirkliche,49 sodass das „nur“ der Idee in die falsche Richtung weist. Seine neuplatonische Denkweise, die durch einen Dualismus vor monistischem Hintergrund gekennzeichnet ist und mit dem „Ich denke“ in der transzendentalen Einheit des Bewusstsein von Kant50 nicht erfasst werden kann, gibt er im 19. Brief mit einer kurzen Stelle, die man leicht überliest, zu erkennen: „Diese Inwohnung zweier Grundtriebe widerspricht übrigens auf keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sodass man nur von den beiden Trieben ihn selbst unterscheidet. Beide Triebe existieren und wirken zwar in ihm, aber er selbst ist weder Materie noch Form, weder Sinnlichkeit noch Vernunft…“51 Schiller bestimmt „Geist“ jetzt als außerhalb des Denkens - zumindest außerhalb der Vernunft, er geht auf diesen Punkt nicht tiefer ein - und löst sich damit von der transzendentalen Methode.

Im zweiundzwanzigsten Brief spricht er davon, wie in den verschiedenen Formen der Kunst die Synthese der Bewusstseinsvermögen verwirklicht wird. Der ästhetische Zustand sei ein Ganzes in sich selbst, nur er führe zum Unbegrenzten. Kunstwerke seien eine Annäherung an jenes Ideal im Modus der Zweckfreiheit: „Der ernsteste Stoff muss so behandelt werden, dass wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen.“52


3.5.1. Natur und Kunst


In unserer heutigen durchökonomisierten Lebenswelt ist die Natur immer mehr zu einer Randgröße geworden. Sie wird weniger erlebt als das Andere, Entgegengesetzte, sondern als erweiterter Kulturraum, es sei denn, sie äußert sich unmissverständlich andersartig und vernichtend in Form von Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Meteoriteneinschlägen. Auch wird gelegentlich ein Mensch von einem Tier gefressen, was bedeutet, wenn dermaßen archaische Kräfte wirken und ein Mensch in einem Tiermagen landet, dass hier seine Kultur durch einen gänzlich entgegengesetzten Willen deutlich negiert wird. Dennoch scheint die Natur, obwohl sie in biologischer Hinsicht die menschliche Lebensgrundlage ist und, als Sinnhorizont in dem Gefüge unserer Vorstellungen, das menschliche Dasein prägt, ihre Autonomie zu verlieren. Durch die globale Ressourcen- ausbeutung, durch Klimawandel, Vergiftungen und Bienensterben ist sie dermaßen gefährdet, dass ihr Fortbestand im Sinne eines sich selbst regulierenden Gesamtsystems fraglich ist. Jede Maßnahme der Renaturierung und Nachhaltigkeit findet sich schnell wieder in der Unentrinnbarkeit gegenüber Marktanpassungszwängen. Der Begriff des Umweltmanagements zeigt seine Begrenztheit schon in seiner vom ökonomischen Denken abgeleiteten Logik. Naturwissenschaftlich-ökologische Methoden, die der rationalistischen Kultur entstammen, sind nicht geeignet, den Logozentrismus, der von Klages und Schiller als Hauptursache des heutigen Naturproblems identifiziert wurde, zu transzendieren.

Unter welchen Rahmenbedingungen kann das Verhältnis Mensch-Natur frei sein von Herrschaftsanspruch, Marktlogik und technologischer Denaturierung? Wenn wir der Idee Schillers folgen, ist der Mensch im mittleren, ästhetischen Zustand frei von Zwecken, er erfährt Freiheit in seinem Spieltrieb. Dieser mittlere Charakter ist das Wesen der künstlerischen Kreativität. Er ist einmal charakterisiert als Absichtslosigkeit des Verstandes, was Zwecke betrifft und ebenso als innere Distanz gegenüber der chaotischen Triebnatur. Die Opposition von Willkür und Gesetz ist aufgehoben, die polare Struktur ist in einer höheren Perspektive, die als Schönheit und Freiheit erfahren wird, verschwunden. An dieser Stelle öffnet sich ein integrativer Zugang zur Natur. Auf dem Gebiet der Kunst nämlich, in der künstlerischen Gestaltung, können auf der Basis der Idee der „lebenden Gestalt“ Felder der Regeneration und Transformation geschaffen werden.

Als Theoriehintergrund für einen aktuellen Kunst-Natur-Diskurs, wie er z.B. für die documenta 13 (2012) maßgebend war, ist Schillers Ästhetik allerdings vergessen. Die von der documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev angestoßene Anthropozentrismus- debatte53 thematisierte den Status der Natur in einer zum Teil mystisch-provokativen Weise. 2014 schloss die Ausstellung „nature after nature“, ebenfalls im Kasseler Fridericianum, an den Diskurs der documenta (13) an und unternahm den Versuch, den „Natur-Geist“- Dualismus aufzuheben, indem die technische Kultur im Ganzen zu Natur erklärt wird,54 also der Naturbegriff die Kultur absorbiert: “Die Trennung von Natur und Kultur ist obsolet. Natur sind wir alle und alles, was uns umgibt. Natur macht und wird, Natur ist Subjekt und Material zugleich.“ Diese Position hat die Konsequenz, die Natur subjektivieren zu müssen; sie wird zu einem materialistischen Monismus. Die dialektische Negativität entfällt, die Empfindung eines Verlustes ist anachronistisch, denn von welchem Standpunkt aus will man, wenn es keinen Gegenpol zur Natur gibt und keine Möglichkeit der Idealität, einen Verlust empfinden und denken? Das Konzept ist affirmativ. Dabei liegt es in der Logik eines solchen totalen Naturalismus, den „Natur-Geist“-Gegensatz als dogmatische Ideologie zu brandmarken. Aus dualistischer Sicht bedeutet eine solche Position, dass die Gefangenschaft des Seelischen und der Natur im „Geist“, das heißt in den Materialisierungen der rational-technischen Kultur, dogmatisch fixiert wird.

Die Dialektik Schillers öffnet weite Handlungsfelder in der Tradition der Naturkunst oder der amerikanischen Land Art, also einer Kunst, die in der Natur mit Materialien der Natur arbeitet. Der Kunstbegriff belebt sich. Schillers Modell, das zwar anthropozentrisch, jedoch nicht logozentrisch ist, impliziert den gleichrangigen Status von Natur und Mensch. In der ästhetischen Praxis werden wir durch Vernunft und ethische Prinzipien nicht gezwungen, weil wir ihre Vorgaben aus Freiheit anerkennen. In diesem Erfahrungsraum zeigt sich eine andere Bewusstseinshaltung durch die Unterordnung des subjektiven Gestaltungswillens; im Zustand der Indifferenz und Zweckfreiheit wird ein dialogischen Arbeiten in der Natur und respektvoller Umgang mit Natur möglich. Hier kann die künstlerische Praxis der „lebenden Gestalt“ vorbildhafte Bedeutung bekommen und auf andere gesellschaftliche Bereiche ausstrahlen. Denn nur künstlerische Interventionen in natürliche Zusammen- hänge und Prozesse können sich an dem Ideal der Schönheit orientieren.

Die Bedeutung, die der Kunst zukommt bei der Erhaltung der Natur, bestätigt auch der Naturphilosoph Gernot Böhme, der in seinem Buch „Die Natur vor uns“55 eine Kritische Theorie der Natur entwirft und von einer „Kunst für die Natur“ spricht. Er entwickelt den Naturbegriff als Produkt historischer Prozesse und als eine kulturelle Konstruktion. Durch die kulturelle Überformung der Natur und ihre zunehmende Verschmelzung mit Technik sei sie zu einer anthropogenen Natur geworden und als solche auch für die Zukunft unter den Bedingungen menschlicher Gestaltung zu sehen. Es sei der heutigen Naturproblematik gegenüber inadäquat, der Umweltzerstörung das Ideal einer reinen, intakten, ursprünglichen Natur als Maßstab für praktische Maßnahmen gegenüberzustellen. Es gehe nicht mehr nur um Naturschutz, sondern, und dabei komme der Kunst eine wesentliche Rolle zu, um die Entdeckung und Wiedergewinnung von Landschaft und um die Renaturierung von Industriebrachen. Naturareale als Kunstwerk ist hier die Perspektive. Es gehe um „Kunst mit Natur“ und um die Artikulation von Natur selbst. „Künstlerische Arrangements können dazu dienen, Natur in besonderer Weise zur Entfaltung zu bringen und sinnfällig zu machen und sie können heute den Menschen die Möglichkeit zur Blickveränderung und zur Wiedergewinnung elementarer Erfahrungen geben.“56

Ähnlich wie wie Ludwig Klages geht auch Böhme in der Geschichte zurück und rekapituliert historische Formen des Wissens über Natur und unseres Verhältnisses zu ihr. Doch seine Intention ist weniger, angesichts des Ideals einer ursprünglichen, intakten Natur ihren heutigen Verlust zu beklagen. Er analysiert die Zerstörungen und entwickelt Leitlinien für eine zeitgemäße „Kritischen Theorie“ der Natur und für aktuelle und zukünftige praktische Maßnahmen.

Im Rahmen dieser Untersuchung soll mit Schillers Ästhetik, im Gegensatz zu einer Indienstnahme der Kunst für Umweltzwecke, auf die Möglichkeit einer anderen Bewusstseinshaltung des Menschen der Natur gegenüber hingewiesen werden. Indem der Mensch den Dualismus in sich selbst in der künstlerischen Praxis integriert, hat er die innere Freiheit erlangt für den gleichberechtigten Dialog. Die innere Haltung des „mittleren, ästhetischen Zustandes“ ist die Bedingung für einen respektvollen Umgang mit Natur. Die Natur atmet und denkt im künstlerischen Prozeß.


4. Zusammenfassung und Ausblick


Die Gegenüberstellung von Ludwig Klages und Friedrich Schiller verfolgte die Absicht zu prüfen, ob der ontologische Abgrund, in den Klages die Natur und mit ihr den Menschen in seiner autokratischen Zentrumsstellung stürzen sah, mit der Ästhetik Schillers überbrückt werden kann. Klages Rede von 1913, sowohl die Beschreibung des Natur- und Kulturverlustes als auch seine Analyse der Ursachen, ist mehr als aktuell, jedoch sind die von ihm gezogenen Konsequenzen zu hinterfragen. Die Entwicklung zur kapitalistischen Industriegesellschaft hatte für ihn dermaßen negative Auswirkungen, dass er die westliche Kultur in eine unentrinnbare Sackgasse gekommen sah. In seiner Emotionalität und Sensibilität, mit der er auf die zerstörerischen Tendenzen der Moderne reagierte, mit seiner Vision einer anderen Welt, an der er die Wirklichkeit am Beginn der zwanzigsten Jahrhunderts maß, kann er als Neoromantiker gesehen werden. Doch darin, dass er jede Form von Logosphilosophie komplett ablehnte und „Leben“ und „Geist“ unversöhnlich gegeneinander setzte, liegt ein entscheidender Unterschied zur „ersten“ Phase der Romantik um 1800. Der daraus resultierende, unterschwellige Irrationalismus seiner Haltung entsprach der Stimmung in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Seine Rede auf dem Hohen Meißner kann vielleicht, trotz ihrer Klarsicht und Wertes als Grundlagentext und erstes Manifest der ökologischen Bewegung, auch als ein Ausdruck der europäischen Bewusstseinskrise am Anfang des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Der einseitig dionysische Charakter seiner Denkweise, der sich, als Konsequenz seiner Kulturkritik, in der philosophischen Verneinung der Verstandeskräfte zeigt, bot wenig Möglichkeiten, auf die destruktiven Ideologien der Folgezeit angemessen reagieren zu können. Doch obwohl sein Idealismus erloschen zu sein schien, ließ er am Ende seiner Rede die Poesie sprechen, was offenbar bedeutet, dass er ihr seine Hoffnungen anvertraute. Den Nihilismus seiner Rede kompensierte er mit einem Rückgriff auf die Romantik und den Hinweis auf positiver gestimmte Visionen des Dichters Joseph von Eichendorff, die jedoch in allgemeinen, religiösen Hoffnungen verbleiben.

Das intellektuelle Klima in den deutschen Ländern war bereits um 1800, und dafür ist Schillers Denkweise repräsentativ, geprägt von einer kritischen Reflexion der beginnenden Moderne im Sinne einer “Dialektik der Aufklärung“. Auf die sich abzeichnenden Defizite konnte dabei mit genialen Erneuerungskonzepten und Ganzheitsentwürfen geantwortet werden. Für Klages war diese Option offenbar historisch, für ihn war die geistige Emanzipation gescheitert, er ließ Aufklärung und Bewusstwerdung des Menschen in einer Sackgasse enden.

Mit Schillers Ästhetik kommt jedoch ein Denken ins Blickfeld, in dem sich die Ausweglosigkeit, in der Klages die Moderne enden ließ, auflöst. Vor dem Hintergrund von Schillers integraler Philosophie, die am Anfang der historischen Epoche entworfen wurde, in der wir uns nach wie vor befinden, zeigen sich Möglichkeiten eines ganzheitlichen Naturbegriffs in der Idee der „lebenden Gestalt“. In seinem Denken wird Klages verhärtete Opposition von „Geist“ und „Seele“, von Bewusstseinsemanzipation und Natur, versöhnt. Klages stellt der rationalistischen Kultur das Leben entgegen; Schiller entdeckt die Mitte. Der kalte, technische Verstand ist abgesetzt. Im Spieltrieb, da dieser nicht auf äußere Zwecke gerichtet ist, findet der Mensch den Zweck seines Handels in sich selbst. Die Integration des anthropologischen Dualismus im ästhetischen mittleren Zustand ist ein Ganzheitskonzept für den zerrissenen Charakter der Moderne. Der desolate Kunstbegriff der Postmoderne wird im Lichte der Ästhetik Schillers reanimiert und ein dogmatischer Naturalismus kann zurückgewiesen werden. Für die Naturkunst öffnen sich neue, philosophisch fundierte Sichtweisen und tiefere Handlungsräume. In der mittleren „ästhetischen Einheit“ anerkennen wir alles Lebendige und gestalten die Natur ohne Herrschaftsanspruch. Im mittleren Zustand sind wir auch Natur, weil wir uns nicht völlig aus ihr lösen. Sie wird nicht der vollständigen Objektivierung unterworfen, denn wir sind mit ihr fühlend verbunden, während Ideen uns leiten. Die Kunst als Gestaltungsfeld ist der ideelle Raum, in dem sowohl die geistige Emanzipation von der Natur als auch ihr intakter Fortbestand möglich werden.


Fußnoten:

1 Ludwig Klages, Mensch und Erde, Berlin, 2013

2 vergl. Fakt, KVV, Kassel, 2014

3 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, München, 1966

4 Klages, S. 5

5 Klages, S.7

6 Klages, S. 15

7 Klages, S. 18

8 Klages, S. 24

9 vergl. Aristoteles, Über die Seele, in: Philosophie jetzt, P. Sloterdijk Hrsg., München, 1997, S.54: „Wir betrachten als eine Gattungen des Seienden die Substanz, das selbstständig für sich Bestehende, und an dieser die eine Seite als Materie, die an sich noch keinerlei Bestimmtheit hat, die andere als Gestalt und Form, vermöge deren erst von einem bestimmten Gegenstand gesprochen wird, und dazu ein drittes, das aus der Verbindung beider Hervorgegangene. Die Materie ist bloße Potentialität, die Form dagegen Aktualität, Entelechie.“

10 Klages, S. 29

11 Klages, S. 21

12 Klages, S. 30

13 Klages, S. 31

14 Klages, S, 31

15 Klages, S. 32

16 Klages, S. 23

17 Klages, S. 29

18 vergl. Neues Testament, CH-Romanel-sur-Lausanne, 2010, Johannes 3.5-7: „Jesus erwiderte: „Ich sage dir eins: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes hineinkommen. 6, Natürliches Leben bringt natürliches Leben hervor; geistliches Leben wird aus dem Geist geboren. 7, Darum sei nicht erstaunt, wenn ich dir sage: Ihr müsst von neuem geboren werden.“

19 vergl. Platon, Der Staat, München, 1991, S.319: „Daß es dabei um die Erkenntnis des immer Seienden geht und nicht dessen, was irgendwann entsteht und dann wieder vergeht?“ „Da werden wir uns leicht einig“, sagte er. „Die Geometrie ist doch die Erkenntnis des immer Seienden.“

20 vergl. Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg, 1993, bes. Sechste Meditation

21 Descartes, S. 64 – 66

22 vergl. Platon, Das Gastmahl, München, 1987, S. 47-60

23 vergl. Stefan Matuschek, in: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Frankfurt am Main, 2009, S. 228 – 230

24 Schiller, 1. Brief, S. 446

25 vergl. Emanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Köln, 1995, S.304: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.“

26 Schiller, 3. Brief, S. 448

27 Schiller, 4. Brief, S. 452

28 Schiller, 6. Brief, S. 456

29 Schiller, 24. Brief, S. 503

30 Schiller, 4. Brief, S. 450

31 Schiller, 5. Brief, S. 453

32 Schiller, 2. Brief, S. 447

33 Schiller, 5. Brief, S. 453

34 Schiller, 8. Brief, S. 461

35 Schiller, 6. Brief, S. 455.

36 Schiller, 6. Brief, S. 454

37 Schiller, 6. Brief, S. 459

38 Schiller, 7. Brief, S. 459

39 Schiller, 11. Brief, S. 469

40 vergl. Matuschek, S.146

41 Schiller, 13. Brief, S. 476

42 Schiller, 13. Brief, S. 475 Anm.

43 Schiller, 13. Brief. S. 472

44 Schiller, 15. Brief. S. 479

45 Schiller, 15. Brief, S. 478

46 Schiller, 25. Brief, S. 509

47 Schiller, 18. Brief, S. 487

48 vergl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt am Main, 1986, S. 89 -91: „Das Schöne ist also die Ineinsbildung des Vernünftigen und Sinnlichen und diese Ineinsbildung als das wahrhaft Wirkliche ausgesprochen.“

49 vergl. G.W.F. Hegel, ebenda: „Diese Einheit nun des Allgemeinen und Besonderen, der Freiheit

und Notwendigkeit, der Geistigkeit und des Notwendigen, welches Schiller als Prinzip und Wesen der Kunst wissenschaftlich erfaßte und durch Kunst und ästhetische Bildung ins wirkliche Leben zu rufenunablässig bemüht war, ist sodann als Idee selbst zum Prinzip der Erkenntnis und des Daseins gemacht und die Idee als das allein Wahrhafte und Wirkliche erkannt worden.“

50 vergl. Kant, § 16. „Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperception“, S. 143 ff.

51 Schiller, 19. Brief, S. 490

52 Schiller, 22. Brief, S. 498

53 vergl. Flyer dOCUMENTA (13), Kassel, 2012: „dOCUMENTA (13) wird angetrieben von einer ganzheitlichen und nicht-logozentrischen Vision, die dem Wissen der belebten Welten-Schöpfer (darunter Menschen) innewohnt und von diesen erkannt wird.“

54 nature after nature, Ausstellungsbooklet, Susanne Pfeffer Hrsg., Kassel, 2014

55 Gernot Böhme, Die Natur vor uns, Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen, 2002

56 Böhme, S. 206



Literatur:







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